Als am Hannoveraner Hauptbahnhof zwei Männer erstochen werden, bekommt ein Testlauf für eine neue Software grünes Licht: Die KI soll riesige Datenmengen durchforsten – und so Verdächtige finden. Falke ist skeptisch.
Thorsten Falke und Künstliche Intelligenz (KI) – klar, dass das kein Match ist. Naheliegenderweise ist dieser hemdsärmelige Hauptkommissar genervt, als bei seinen Ermittlungen eine KI-basierte Investigationssoftware herangezogen werden soll. Zwei Menschen sind kurz hintereinander im Hannoveraner Hauptbahnhof erstochen worden, aus dem Schutz einer dichten Menschenmenge heraus.
Gabriele Seil (Anna Stieblich), die Leiterin der überregionalen Ermittlungsgruppe, besteht auf dem Einsatz von “Kroisos”: Das Programm durchsucht riesige Datenmengen, analysiert Bewegungsprofile und checkt Social-Media-Posts sowie Behördenkontakte all der Personen, die zur Tatzeit in der fraglichen Funkzelle eingeloggt waren. Schon bald ist ein Verdächtiger identifiziert: René Kowalski, ein offenbar psychisch kranker Mann. Soweit die Ausgangslage in dem “Tatort: Im Wahn”, den das Erste am Ostermontag von 20.15 bis 21.45 Uhr ausstrahlt.
Als Bundespolizist Falke (Wotan Wilke Möhring) zusammen mit der Kollegin Yael Feldmann (Peri Baumeister) von der Kripo Hannover Kowalski zu Hause aufsucht, kommt es zu einem tödlichen Unfall. Zugegen ist dabei auch die Schwester des Tatverdächtigen, Nora (Maria Dragus). Sie will nicht glauben, dass ihr Bruder, der an einer sogenannten schizoaffektiven Störung leidet, zu derartigen Taten in der Lage gewesen sein soll. Tatsächlich gibt es am Morgen nach Kowalskis Ableben einen weiteren Mord, begangen nach exakt demselben Muster.
Hat Kroisos also “den Falschen ans Messer geliefert”? Für den sehr analogen Charakter Falke der Punkt, ab dem er endlich “auf seine Art und Weise” arbeiten will. Und das bedeutet: alte Schule. Plakate drucken, die Öffentlichkeit zur Mitwirkung aufrufen, Telefonleitungen einrichten, um Hinweise aus der Bevölkerung entgegenzunehmen. Unterstützt wird Falke durch die vom Göttinger “Tatort”-Team hinzugezogene Anais Schmitz (Florence Kasumba). Was sich allerdings als weitgehend verpasste Chance erweist: Schmitz hat hier leider wenig zu tun – und noch weniger zu sagen.
Ebenfalls nicht ganz überzeugend gerät die dramaturgische Auflösung der ersten beiden Morde nach etwa zwei Dritteln Laufzeit. Das nimmt ein wenig Glaubwürdigkeit und auch Spannung aus diesem ansonsten sehr dichten und auch ästhetisch überzeugenden Krimi. Abgesehen von derlei kleinen Mankos funktioniert “Im Wahn” aber ziemlich gut.
So hat Georg Lippert ein kluges, vielschichtiges Drehbuch geschrieben, das keineswegs Schwarz-Weiß-zeichnet à la “böse Technologie versus ehrliche Handarbeit”. Viviane Andereggen setzt diese Vorlage souverän und intensiv in Szene und beweist zudem gute Schauspielführung – die darstellerischen Leistungen sind durchweg gelungen.
Auffallend an diesem “Tatort” aber sind vor allem seine ambitionierte Bild- und Musikgestaltung: So arbeitet Kameramann Martin Langer eindrücklich mit Licht- und Schattenspielen, aber auch einer zwischen grünstichig-kühl und orange-gelb-braun changierenden Farbgebung. Diese scheint den Gegensatz zwischen digitaler und analoger Welt aufzugreifen, zieht sich auch durch Kostüm und Szenenbild.
Die vielfach preisgekrönte Annette Focks wiederum zeichnet für die fesselnde, düstere Musikebene verantwortlich. Kongenial vereint sind diese beiden Bereiche in der sogartig-spannenden Eingangssequenz, die Menschen in den lichtarmen Zwischengeschossen des Bahnhofs hin- und hereilen und schließlich einen von ihnen zwei Morde begehen lässt.
Und wer macht nun das Rennen bei der Frage, wer der bessere Ermittler ist, Mensch oder Maschine? Laut Kroisos-Mitarbeiter Jennewein (Thomas Niehaus) ist die Sache klar: “Alles, was Sie tun, was Sie denken, was Sie fühlen, kann eine Maschine besser als Sie! Sie sind lächerlich, Falke – und überflüssig.”
Das letzte Wort in diesem “Tatort” hat er damit freilich nicht. Die abschließenden, wortlosen Minuten des Films gehören Menschen und ihrer Mimik, ihren Blicken und Emotionen: den wunderbaren Schauspielern Wotan Wilke Möhring und Maria Dragus.