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Studie: Wertvorstellungen driften global auseinander

Die Theorie ist fest etabliert: Gesellschaften, in denen materielle Bedürfnisse weitgehend gedeckt sind, entwickeln neue, postmaterialistische Werte. Doch ganz so einfach ist es offenbar doch nicht.

Menschen aus wohlhabenden westlichen Ländern und Menschen aus anderen Teilen der Welt unterscheiden sich laut einer Studie immer deutlicher darin, wie stark sie emanzipatorische Werte teilen. Insbesondere bei der Zustimmung zu Toleranz und Selbstentfaltung seien in den vergangenen 40 Jahren global die Differenzen gewachsen, heißt es einer Studie, die am Dienstag im Fachblatt “Nature Communications” erschienen ist und über die das Wissenschaftsportal “Science Media Center” vorab berichtet.

Auch bei Themen wie Migration, Religion, technologischem Wandel sowie Einstellungen gegenüber Homosexualität und Abtreibungen gingen die Ansichten zwischen den Kulturzonen der Welt stärker auseinander. Innerhalb von Weltregionen näherten sich die Werte zwischen Ländern dagegen einander an.

Zwar haben der Studie zufolge generell Länder mit ähnlichem Bruttoinlandsprodukt ähnliche Werte. Aber der Zusammenhang, dass sich mit steigendem Wohlstand emanzipatorische Werte stärker durchsetzen würden, sei insbesondere in asiatischen und afrikanischen Ländern viel weniger ausgeprägt als im Westen, heißt es.

Für die Studie wurden repräsentative Umfragen des World Values Survey für 76 Länder ausgewertet. Von 1981 bis 2022 wurden diese Umfragen insgesamt sieben Mal durchgeführt. Dabei wurde nicht direkt die Zustimmung nach emanzipatorischen Werten erfragt, sondern indirekt Themen wie die Bewertung von Homosexualität oder Kindererziehung angesprochen.

Als Beispiel für die zunehmende Divergenz der Werte beschreiben die Forschenden, wie verschieden sich die Zustimmung zum Wert des Gehorsams in der Kindererziehung entwickelt hat: Während der ersten Umfrage erklärten noch 39 Prozent der Australier und 32 Prozent der Pakistanis, Gehorsam habe eine hohe Bedeutung. In der letzten Umfrage stimmten dem nur noch 18 Prozent der Australier, aber 49 Prozent der Pakistanis zu.

Zunehmende Wertedivergenz könnte Konsequenzen für politische Polarisierung und internationale Konflikte haben, so die Forschenden. Zudem zeigten sich in Umfragen in Asien, Afrika und dem Mittleren Osten zunehmend ablehnende Haltungen gegenüber westlichen Staaten – allerdings sei der genaue Zusammenhang mit Werten nicht klar erforscht.

Der Potsdamer Sozialwissenschaftler Roland Verwiebe erklärte gegenüber dem “Science Media Center” dazu, es hätten sich in den letzten Jahrzehnten neue Spaltungslinien zwischen westlich geprägten, sehr wohlhabenden europäischen Ländern auf der einen Seite und asiatischen und (nord)afrikanischen Staaten auf der anderen Seite herausgebildet. Die liberalen Demokratien europäischer Prägung befänden sich weltweit zunehmend in der Defensive; in Teilen nehme ihre Akzeptanz auch innerhalb der stark demokratisch geprägten Gesellschaften deutlich ab. Werte würden zudem in unterschiedlichen Weltregionen ganz unterschiedlich beurteilt. Während sie im Westen stark auf den Einzelnen und seine individuelle Freiheit bezogen seien, seien sie im Süden stärker von der jeweiligen Kultur und Religion bestimmt.

Die Mannheimer Psychologin Constanze Beierlein betonte, die Spaltung scheine nicht rein von der wirtschaftlichen Entwicklung getrieben zu sein. “Denn das Anwachsen an Wohlstand – sprich ‘Modernisierung” – hat nicht bei allen Ländern zu einer Zunahme post-materalistischer Werte geführt.”

Der Kölner Sozialpsychologe Eldad Davidov warnte vor einer Überbewertung der Studie. Darin gehe es eher um Einstellungen, Meinungen und Verhalten – aber nicht um fundamentale Grundwerte.

Auch der Lüneburger Politikwissenschaftler Christian Welzel mahnte zu einem kritischen Blick: Aus seinen eigenen Forschungen ergebe sich ebenfalls ein leichtes Auseinanderdriften in Wertorientierungen zwischen den Kulturzonen der Welt. Es sei bedingt durch den Unterschied zwischen kollektivistischen und individualistischen Kulturtraditionen. Die Autoren der Studie überzeichneten aber. Welzel betont, dass sich die Weltkulturen insgesamt und übereinstimmend auf einem Weg zu mehr Säkularität und Emanzipation bewegten – allerdings in unterschiedlicher Geschwindigkeit. “Der Unterton der Studie, hingegen, dass die Weltkulturen sich in gegensätzliche Richtungen bewegen würden, ist irreführend.”