Millionen Aufrufe – aber nur wenig gehaltvolle Information: In vielen populären Videos auf Social Media wird ADHS romantisierend dargestellt. Fachleute widersprechen: Es handele sich mitnichten um eine “süße Störung”.
Eine Mehrheit beliebter Tiktok-Videos zu ADHS enthält gravierende Fehler: Das zeigt eine US-Studie, die im aktuellen Fachjournal “PLOS One” erscheint. Die Kommunikationswissenschaftlerin Paula Stehr bezeichnete es gegenüber dem Science Media Center als besorgniserregend, dass in den untersuchten Videos “viele und zum Teil falsche Symptome angesprochen, aber kaum Hinweise zum Umgang mit ADHS gegeben werden”.
Untersucht wurden laut Angaben die beliebtesten Videos, die Nutzerinnen und Nutzern unter dem Schlagwort #ADHD – die englischsprachige Abkürzung für Attention Deficit Hyperactivity Disorder – vorgeschlagen werden. Diese waren im Schnitt 38,3 Sekunden lang, wurden rund fünfeinhalb Millionen Mal angeklickt und knapp eine Million Mal gelikt.
Psychologen bewerteten über die Hälfte der in den Videos angesprochenen Symptome als nicht-ADHS-spezifisch – die meisten (68,5 Prozent) bildeten eher “normale menschliche Erfahrungen” ab. In einem zweiten Schritt bewerteten Freiwillige jeweils die fünf am besten und am schlechtesten bewerteten Videos und kamen zu ähnlichen, wenn auch weniger deutlichen Ergebnissen.
Durch die Videos könne sich die Wahrnehmung vermeintlich passender eigener Symptome verstärken, sagte die Unterhaltungsforscherin Kathrin Karsay. “Alltägliche Schwierigkeiten werden dann möglicherweise vorschnell als Symptome interpretiert.” Auch setze sich der Eindruck fest, dass ADHS weit verbreitet sei, “selbst wenn die tatsächliche Prävalenz geringer ausfällt”. Diese liegt bei Kindern und Jugendlichen bei etwa fünf Prozent, bei Erwachsenen zwischen zwei und drei Prozent.
Auf Tiktok gilt #ADHD als einer der zehn häufigsten Hashtags zu Gesundheitsthemen. Soziale Medien seien eine zentrale Informationsquelle und ein Ort für Austausch, “vor allem wenn es um Gesundheitsthemen geht”, sagte Karsay. ADHS-Betroffene würden dort “oft als quirlig, liebenswert und fast schon unterhaltsam dargestellt – eine ‘süße Störung’, die in kurzen, humorvollen Clips inszeniert wird.” So könne ein romantisierendes und verharmlosendes Bild entstehen.
Inkorrekte oder überzeichnete Darstellungen gibt es laut Karsay auch bezüglich anderer Krankheitsbilder, etwa dem Tourette-Syndrom, Prostatakrebs oder einer Sehnenansatzentzündung am Ellenbogen. Stehr sprach sich für ein professionelles Gesundheitsmanagement auf Plattformen wie Tiktok aus. “Eine tatsächliche Diagnose kann jedoch nur durch Personen mit der entsprechenden Qualifikation erfolgen.” Die Medienpsychologin Sabine Trepte nahm auch Fachleute in die Pflicht: Etwa psychologische Berufsverbände dürften nicht “stillhalten und dann meckern, dass sich Betroffene ihre Inhalte auf Tiktok oder Amazon selbst suchen.”
Die neurobiologische Entwicklungsstörung ADHS beginnt im Kindes- und Jugendalter; in dieser Lebensphase zählt sie zu den am häufigsten diagnostizierten psychischen Erkrankungen. Sie tritt situationsabhängig auf und ist vor allem durch Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität gekennzeichnet, die sich nicht anderweitig erklären lassen.