Morgens um zehn ist Nina Jäckle gerade bei ihrem ersten Kaffee, und ihre Stimme am Telefon klingt noch recht müde. Gearbeitet hat sie gestern abend, bis spät – geschrieben und das Geschriebene überarbeitet, bis es perfekt war. Vorher geht sie nicht ins Bett. „Es lässt mir keine Ruhe, wenn ich einen Satz habe, der nicht schön klingt“, sagt sie.
Jäckles Büchern merkt man dieses akribische Feilen an den Sätzen an: In ihnen begegnet eine schnörkellose, lakonische und zugleich poetische Sprache mit einer ganz eigenen Melodie. Behutsam führt die 1966 geborene Autorin damit ihre Leserinnen und Leser an ihre Figuren heran, die oft ein Geheimnis mit sich herumtragen, einen Verlust, eine unerfüllte Hoffnung, eine unbestimmte Traurigkeit. Trost gibt es nur im Aushalten und Weiterleben – eine Erfahrung, die Nina Jäckle durch den frühen Tod ihres Vaters kennt. Sie sei weder im Leben noch in der Literatur der Traurigkeit ausgewichen, sagt sie. Große Gefühle sind in ihren Augen vielmehr ein Reichtum, auch wenn sie weh tun: „Ich halte sie für einen Bestandteil des glücklichen Lebens.“
Traurigkeit als Teil des glücklichen Lebens
Was es heißt, zu trauern, hat Nina Jäckle bereits als Jugendliche durch die tödliche Krebserkrankung ihres Vaters erlebt. „Es war mir klar, dass das der schiere, große Verlust ist, der niemals weniger sein wird“, erinnert sie sich. Mit dem Gedanken an ein Leben nach dem Tod kann sie wenig anfangen. „Darüber wurde in meinem Elternhaus nicht geredet, genauso wenig wie über Glauben überhaupt.“
Ein Gespräch mit ihrem Vater jedoch ist ihr im Gedächtnis geblieben. Dem Jazzmusiker wurden in der Zeit seiner Krankheit Bach-Choräle immer wichtiger. „Er hat gesagt: Weißt du, Nina, wenn man über das Sterben nachdenkt, hat man keine andere Wahl, als sich mit der Seele irgendwohin zu wenden. Ich möchte nicht an Gott glauben, aber ich fange schon mal mit der Musik an.“
Für ihr letztes Buch, „Der lange Atem“, hat Nina Jäckle den Evangelischen Buchpreis bekommen. Es erzählt die Geschichte eines japanischen Zeichners, der nach der Tsunami-Katastrophe 2011 Phantombilder der bis zur Unkenntlichkeit entstellten Leichen anfertigt, um ihre Identifizierung zu ermöglichen.
Der Held: ein stiller Wiedergutmacher
Diesen Zeichner, einen japanischen Polizisten, gibt es wirklich. Auch das deutsche Fernsehen hat über ihn berichtet. Das war der Anstoß für das Buch: Dieser einzelne kleine Mensch, der sich Strich für Strich durch die unfassbare Katastrophe arbeitet, hat sie nicht mehr losgelassen. „So wahnsinnig pragmatisch und herzlich in einem“, sagt sie: „Ein Mann, der inmitten dieser riesigen Katastrophe so bezaubernd einfach mit seinem Bleistift Hilfe zur Identifizierung für die Hinterbliebenen leistet und dazu die Gesichter der Toten in Liebe wieder aufbaut.“
Die Fakten, auf denen „Der lange Atem“ beruht, hat Jäckle im Internet recherchiert; vor Ort war sie nicht. „Ich weiß nicht, ob ich mich getraut hätte, das Buch zu schreiben, wenn ich es unmittelbar gesehen hätte“, erzählt sie. Die Geschichte sollte Dichtung bleiben; eine metaphorische Erzählung vom Tod als dem endgültigen, unfassbaren Verlust und gleichzeitig von der Möglichkeit des Weiterlebens nach der absoluten Katastrophe. Ein dreiviertel Jahr lang hat sie an dem Text gearbeitet – „dann bin ich aufgestanden und wusste: Es ist so, wie es sein soll“.
Dass sie für das Buch einen evangelischen Buchpreis erhält, hat sie besonders gefreut, erzählt die Autorin – vor allem, weil es in der Begründung nicht vorrangig um die literarische Qualität des Buches geht, sondern um den Inhalt; um den Versuch, „Unfassbares in Worte zu fassen und anzudeuten, wie ein Weiterleben möglich ist“, wie die Jury formuliert hat. Richtig begeistert ist sie über das Heft des Evangelischen Literaturportals mit Anregungen für die Arbeit mit dem Buch in Gottesdiensten oder Gemeindekreisen. „Die Idee, mit dem Buch einen Gottesdienst zu gestalten, hat mich sehr berührt“, sagt sie. „Das ist ein Zugewinn für mich und mein Schaffen – und es passt speziell zu diesem Buch. Eigentlich ist es das Buch, das den Preis gewonnen hat, nicht ich.“
Nach „Der lange Atem“, dem „perfekten Text“, wie sie es selbst nennt, hat Nina Jäckle sich schwergetan, ein neues Werk zu beginnen. Ein Jahr lang hat sie sich Pause gegönnt; inzwischen sitzt sie aber wieder an der nächsten Geschichte. Möglich ist diese Form der Arbeit, weil Jäckle, die mit 25 Jahren durch ein Hörspiel zur Literatur kam, sehr bescheiden lebt – „nur eine winzige Wohnung, kein Auto, keine Kinder“ –, und weil sie für ihre Erzählungen und Hörspiele immer wieder Preise und Stipendien bekommen hat. In diesem Rahmen lebte sie schon in Lüneburg, im österreichischen Schaz, im brandenburgischen Beeskow und in Aargau in der Schweiz. Für das nächste Jahr hat sie das ganz große Los gezogen: ein Jahresstipendium der Villa Massimo in Rom. „Ich habe einfach viel Glück gehabt in meinem Schriftstellerleben“, sagte sie.
• Nina Jäckle: Der lange Atem. Verlag Klöpfer & Meyer, 171 Seiten, 19 Euro. Dazu: Evangelischer Buchpreis 2015 – Anregungen für Gottesdienst, Gemeinde und Bildungsarbeit. Gestaltungsvorschläge für Gruppenarbeiten, Andachten, Gottesdienste und Länderinformationen über Japan. Zu beziehen beim Evangelischen Literaturportal, Telefon (05 51) 50 07 59-0 oder im Internet unter www.eliport.de, Preis: 1,50 Euro plus Porto.