In der Regel ist es so: Weiße Männer dirigieren die Musik von toten weißen Männern. Eine neue Untersuchung hat das gerade bestätigt. Die Bayreuther Festspiele stellen eine Ausnahme dar. Inwiefern?
Die Bayreuther Festspiele – sind sie die Speerspitze des Fortschritts? In diesem Jahr dirigieren zum ersten Mal mehr Frauen als Männer auf dem Grünen Hügel. Festspielleiterin Katharina Wagner zeigte sich sehr stolz, dass die Australierin Simone Young Richard Wagners “Ring der Nibelungen” dirigiert. Wie ungewöhnlich es ist, dass eine bedeutende Instanz im Klassik-Betrieb von einer Frau geleitet wird und dort mehr Frauen als Männer das Dirigat übernehmen, zeigen neue Untersuchungen der Stiftung “Donne, Women in Music” (Frauen in der Musik).
Gabriella di Laccio, brasilianisch-italienische Opernsängerin und Aktivistin, hat diese Stiftung gegründet mit dem Ziel, Geschlechtergerechtigkeit im Bereich der klassischen Musikindustrie zu erreichen. Die aktuellen Statistiken, die die Stiftung veröffentlicht hat, lassen erkennen, dass der Weg noch sehr weit ist.
Die Stiftung hat die Daten von 111 renommierten Orchestern auf der ganzen Welt in der Orchestersaison 2023/24 ausgewertet im Hinblick auf die Programmgestaltung, also welche Komponisten gespielt wurden. Jetzt folgte auf der Basis dieser Daten ein Überblick über die Dirigenten.
Die Stiftung stellt fest, dass Männer bei den untersuchten Orchestern immer noch das Sagen haben, nämlich in 89,9 Prozent der Fälle. Nur 10,1 Prozent der Stellen als Chefdirigent oder Musikdirektor werden von Frauen besetzt. “Diese Statistiken verdeutlichen das anhaltende Ungleichgewicht der Geschlechter auf den höchsten Führungsebenen von Orchestern”, kommentiert “Donne, Women in Music” das Ergebnis.
Die Stiftung identifiziert folgende Dirigentinnen, die es ihrer Meinung nach an die Spitze geschafft haben: Simone Young, Marin Alsop, Elim Chan, Kristiina Poska, Dalia Stasevska, Eva Ollikainen, Han-Na Chang, Anna-Maria Helsing, Joanna MacGregor, Nathalie Stutzmann und Mei-Ann Chen. In dieser Auflistung fehlt beispielsweise die ukrainische Stardirigentin Oksana Lyniv, die auch in diesem Jahr auf dem Grünen Hügel in Bayreuth dirigiert und als erste Frau ein Opernhaus in Italien, nämlich das Teatro Comunale di Bologna, leitet.
Die Auswertung der am meisten gespielten Komponisten zeigt, dass die Programmplaner sich sehr konservativ verhalten. Sie setzen auf Mozart, Beethoven, Tschaikowsky, Brahms oder Dvorak. John Williams ist auf Platz 14 der einzige lebende Komponist, der es in die Top 25 schafft. Er und George Gershwin sind in dieser Liste auch die einzigen beiden nicht-europäischen Komponisten.
Die Französin Lili Boulanger (1893-1918) war nach Angaben der Stiftung die am häufigsten gespielte Komponistin, sie stand 52 mal auf dem Programm (Mozart 1060 mal). Anna Clyne, Sofia Gubaidulina, Gabriela Ortiz und Kaija Saariaho sowie Unsuk Chin nehmen die folgenden Plätze ein. Insgesamt aber dominieren nach Erkenntnis der Stiftung 25 männliche, weiße und – mit Ausnahme von John Williams – tote Komponisten das Programm.
In der Untersuchung im Hinblick auf die Programmgestaltung sind auch vier deutsche Orchester untersucht worden: das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, die Berliner Philharmoniker, das Gewandhausorchester Leipzig und die Staatskapelle Dresden. Tatsächlich können sich die Berliner Philharmoniker zugute halten, dass sie unter den Genannten das diverseste Programm anboten. Von 212 Musikstücken wurden 16 von Frauen komponiert, eine Steigerung um 6,3 Prozent zum Vorjahr. Die Staatskapelle Dresden hatte in diesem Jahr erstmals zwei Musikstücke von Frauen im Programm – von insgesamt 108 Kompositionen.
Gabriella di Laccio als Gründerin der Stiftung und Opernsängerin sieht die Zukunft der klassischen Musik nur gewahrt, wenn die vielfältigen, diversen Stimmen der Gegenwart berücksichtigt werden. “Indem wir uns die Vielfalt zu eigen machen, bereichern wir die Musiklandschaft nicht nur für die Enthusiasten von heute, sondern auch für die künftigen Generationen, die die klassische Musik als eine lebendige, dynamische und inklusive Kunstform sehen werden.”