Wird die Ehe für alle in den USA bleiben? Sie ist gesellschaftlich breit akzeptiert. Die größte und sehr einflussreiche protestantische Gemeinschaft, die Southern Baptists, will sie aber auf legalem Weg abschaffen.
James (Jim) Obergefell wollte als Witwer auf dem Totenschein seines langjährigen Partners John Arthur vermerkt werden. Mit diesem Wunsch begann ein langer Weg durch die Instanzen der verschiedenen Gerichte. Sein Partner starb 2013. Zwei Jahre später, am 26. Juni 2015, gab das höchste Gericht der Vereinigten Staaten, der Supreme Court, sein Urteil bekannt: Das Recht zu heiraten ist ein grundlegendes Menschenrecht, das auch gleichgeschlechtlichen Paaren zusteht. Die Staaten müssen daher gleichgeschlechtliche Paare genauso behandeln wie heterosexuelle Paare und deren Ehen anerkennen.
Das Urteil ist unter Obergefells Namen in die Justizgeschichte eingegangen. Aber wird es Bestand haben? Zehn Jahre, nachdem der Oberste Gerichtshof die gleichgeschlechtliche Ehe als verfassungsmäßiges Recht anerkannt hat, liegt die landesweite Zustimmung immer noch bei 68 Prozent und ist damit stabil, hat das Meinungsforschungsinstitut Gallup aktuell herausgefunden.
Doch nach ihren Erkenntnissen zeigen sich vertiefende parteipolitische Gräben. Bei den Republikanern ist die Zustimmung zur Ehe für alle auf 41 Prozent gesunken, stellt Gallup fest. In den Jahren 2021 und 2022 waren es noch 55 Prozent. Die republikanische Partei stellt aktuell die Mehrheit im Kongress und Senat sowie den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Bei den Demokraten liegt die Zustimmung zur Ehe für alle bei 88 Prozent.
Es gibt weitere Gründe anzunehmen, warum das bahnbrechende Urteil nicht für die Ewigkeit ist. Denn damals schrieb der Supreme Court-Richter John Roberts die Begründung für die Minderheit, die sich gegen die Ehe für alle aussprach. Er sagte: “Die Entscheidung der Mehrheit ist ein Willensakt, kein juristisches Urteil. Das von ihr verkündete Recht hat keine Grundlage in der Verfassung oder in der Rechtsprechung des Gerichtshofs.” John Roberts ist heute der führende Richter unter den neun Richtern des Supreme Courts und gilt als stabiles Mitglied der konservativen Mehrheit, wenn er auch gelegentlich mit den liberalen Richtern abstimmt.
Und dann ist da noch der Richter Clarence Thomas, ebenfalls Mitglied des konservativen Flügels des höchsten Gerichts. In seinem Sonder-Urteil zur Abschaffung der Abtreibungsgesetzgebung vor drei Jahren schlug er vor, weitere Grundsatzurteile auf den juristischen Prüfstand zu stellen. Thomas schrieb, dass diese Urteile “nachweislich fehlerhafte Entscheidungen” waren.
Die Fälle, die er erwähnte, sind unter anderem “Griswold gegen Connecticut”. Das Gericht erklärte in dem Urteil von 1965, dass die US-Verfassung das Recht auf Privatsphäre schütze – insbesondere das “Recht auf Privatsphäre in der Ehe”. Damit wurde der Gebrauch von Verhütungsmitteln straffrei. Das Urteil wird als Grundlage für viele weitere Entscheidungen zum Schutz der Privatsphäre angesehen – Richter Clarence Thomas hält das für eine fehlerhafte Entscheidung.
Auch möchte der Supreme Court-Richter das Urteil “Lawrence gegen Texas” aus dem Jahr 2003 aus dem gleichen Grund aufgehoben sehen. Das Gericht erklärte damals, dass einvernehmlicher Sex zwischen Erwachsenen des gleichen Geschlechts nicht strafbar sein darf und dass entsprechende Gesetze gegen das Recht auf Privatsphäre gemäß dem 14. Zusatzartikel der US-Verfassung verstoßen. Clarence Thomas ist auch gegen das Recht der Ehe für alle, weil es auf der gleichen juristischen Grundlage basiert.
Unter diesem Eindruck hat im Dezember 2022 der frühere US-Präsident Joe Biden ein Gesetz mit dem Namen “Respect for Marriage Act” (deutsch: “Gesetz zum Respekt vor der Ehe”) unterschrieben. Das Gesetz verpflichtet die US-Regierung und alle Bundesstaaten, gleichgeschlechtliche Ehen anzuerkennen und zwar auch dann, wenn ein Staat diese Ehen selbst nicht zulässt. Also wenn ein gleichgeschlechtliches Paar in einem Staat heiratet, muss jeder andere Staat diese Ehe anerkennen.
Sollte das Oberste Gericht das Urteil Obergefell, das die gleichgeschlechtliche Ehe landesweit erlaubte, kippen, bleibt die Anerkennung der Ehe für alle auf Bundesebene und in allen Staaten, die das Gesetz nicht aufheben, bestehen.
Ausdrücklich werden in diesem Gesetz auch die Ehen zwischen Menschen verschiedener Hautfarben unter Schutz gestellt. 1967 entschied der Supreme Court, dass Gesetze, die die Eheschließung zwischen Menschen unterschiedlicher Rassen verbieten, gegen den 14. Zusatzartikel der US-Verfassung verstoßen und daher verfassungswidrig sind. Aber in den vergangenen Jahren wurden immer wieder Stimmen laut, dagegen anzugehen.
Das Recht auf Abtreibung war auch weitestgehend gesellschaftlich akzeptiert, der Supreme Court hat es dennoch gekippt. Ähnlich kann es auch mit der Ehe für alle oder weiteren Errungenschaften einer liberalen Gesellschaft gehen. Verschiedene konservative Gruppen warten nur auf einen geeigneten Fall, um damit bis vor das höchste Gericht zu ziehen. Die Southern Baptists, die größte protestantische Gemeinschaft in den USA, jedenfalls sind dabei. Sie haben auf ihrer jährlichen Zusammenkunft Anfang Juni beschlossen, sich für die “Aufhebung von Gesetzen und Gerichtsurteilen, einschließlich Obergefell v. Hodges, die sich über Gottes Plan für Ehe und Familie hinwegsetzen”, stark zu machen.