50 Jahre ist es her, dass der italienische Autor und Regisseur Pier Paolo Pasolini (1922-1975) ermordet wurde, und sein Tod wirft immer noch Fragen auf. Der politisch engagierte Intellektuelle hatte sich Feinde in Politik und Wirtschaft gemacht – und verkehrte zudem in der römischen Unterwelt. Seinen übel zugerichteten Leichnam fand man an einem seiner Drehorte: einem Sportplatz in Ostia bei Rom, „einem staubigen Platz voller Gerümpel, der sich in eine mythische Pflanzennatur verwandelt hatte“, wie Pasolini-Biograf Nico Naldini schreibt.
Pasolinis Ermordung in der Nacht vom 1. auf den 2. November 1975 war „ein Ereignis, an dem die ganze Nation teilnahm“, sagt Fabien Vitali, der an der Universität Siegen zu Pasolini als einer populären Figur forscht. Bekannt wurde der Regisseur mit Filmen wie „Accattone“, „Das 1. Evangelium nach Matthäus“ und „Salò oder Die Tage von Sodom“.
Sein Tod habe eine Art Trauma hinterlassen, eine Wunde, die nicht verheile und daher immer wieder Thema in der Öffentlichkeit werde, erläutert Vitali. Auch die Gerichte rollten den Fall wiederholt auf, ohne Erfolg. Ein halbes Jahr nach Pasolinis Tod war der 17-jährige Pino Pelosi wegen Mordes verurteilt worden; später widerrief er sein Geständnis.
Hinter dem Faszinosum Pasolini steht für Vitali mehr als ein ungelöster Kriminalfall: „Man erinnert Pasolini als eine Art Märtyrer, der für seine politischen Überzeugungen starb“. Hinter dem wiederkehrenden Interesse vermutet Vitali eine Sehnsucht nach einer solchen Figur.
In Rom und Neapel ist diese auf riesigen Pasolini-Wandmalereien nachzuvollziehen. Rom feiert ihn derzeit mit einem dreimonatigen Programm: Seine Wohnung wird als Museum zugänglich, einen Schlusspunkt setzt ein Theaterstück über den Kriminalfall des ermordeten Regisseurs. Und die italienische Premierministerin Giorgia Meloni von der postfaschistischen Fratelli d’Italia meint in ihrer Autobiografie „Io sono Giorgia“ sogar ausgerechnet im Kommunisten Pasolini einen Vordenker der Neuen Rechten zu erkennen.
Pasolinis Helden sind einfache Leute, Ausgestoßene, Menschen am Rand der bürgerlichen Gesellschaft. 1922 bei Bologna geboren, wächst er in Mussolinis Italien auf, sein Vater ist Offizier. In der Bauernkultur des Friaul, aus der seine Mutter stammt, entdeckt er Auswege aus der bürgerlichen Enge, wie Vitali erklärt – und Menschen, die ungezwungener mit ihrer Sexualität umgehen. Seine oft im friaulischen Dialekt verfasste Dichtkunst finanziert Pasolini zunächst durch seine Arbeit als Lehrer, bis 1949 ein Pfarrer dessen Homosexualität öffentlich macht. Mit seiner Mutter zieht Pasolini nach Rom und beginnt, Romane zu schreiben.
In den römischen Vororten, in denen er zunächst lebt, sammeln sich damals arbeitssuchende Männer vom Land. Gewalt und Armut geben den Ton an. Seine Eindrücke schildert Pasolini bald auch in Filmen wie „Accattone“, oft mit Darstellern von der Straße besetzt. Der Film zeigt die Rohheit des gleichnamigen jugendlichen Zuhälters und seiner Lebensbedingungen in einem mythisch aufgeladenen realistischen Stil. Accattones Versuche, gegen das eigene Schicksal anzukämpfen, bleiben kraftlos.
Für Vitali trifft vor allem Pasolinis Kulturkritik noch einen Nerv. In Filmen, Gedichten und Tageszeitungen habe dieser eine tiefe Verunsicherung in seinem Land analysiert und abgebildet: Ein zu schneller Wandel, die überhastete Industrialisierung des Landes, habe die Menschen überrumpelt, habe Pasolini geglaubt. Obwohl es wirtschaftlich vielen besser ging.
Mit dem Aufschwung gingen für Pasolini aber auch die Überreste einer kulturellen Lebendigkeit und Vielfalt verloren, die er bei der Bauernkultur im Friaul lieben gelernt habe. „In den Dialekten fand Pasolini Zugriff auf genuin menschliche Traditionen“, sagt Vitali. Das Hochitalienisch der Massenmedien habe er hingegen als leblose und vornehmlich technokratische Sprache angesehen.
Pasolini wurde mehrfach verurteilt, etwa wegen Pornografie und Blasphemie, seine Filme zensiert. Auch deutsche Behörden beschlagnahmten „Salò“, der grausame Rituale in einer fiktiven faschistischen Republik zeigt. Pasolini, meint Vitali, habe wissen wollen, wie eine Welt aussähe, in der der Mensch ganz und gar zu einem Ding geworden wäre, zu einer käuflichen Ware.
Der Regisseur habe aber auch nach dem gesucht, „was uns als Menschen früher zusammengehalten hat“, sagt Vitali. Solche Kräfte entdeckte Pasolini, der sich nicht als gläubig verstand, im Subproletariat, aber auch in der Religion: In seinem Film „Das 1. Evangelium nach Matthäus“ ruft Jesus die Menschen zur Umkehr auf und wirft soziale Konventionen über den Haufen.
Zeit seines Lebens blieb Pasolini hochumstritten. Seine Partei-Genossen feindeten den Homosexuellen an, in den 1970ern stritt der Star-Regisseur mit der linken Jugend. Die katholische Kirche sah in ihm einen Gotteslästerer. Pasolini habe die Auseinandersetzung gesucht, sagt Vitali. „Er hat seinen Gegnern zugehört, auch den Faschisten.“ Ohne den anderen zu verletzen, aber auch „ohne der Wahrheit untreu zu werden“.