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Weiblicher Nerd im Selbstfindungsprozess

„Kann man jede gerade Zahl als Summe von Primzahlen darstellen?“ Die sogenannte Goldbachsche Vermutung gehört zu den bekanntesten ungelösten Problemen der Mathematik. Professor Werner will mit dieser Frage seine Studenten dazu anregen, bei der Beweisführung um die Ecke zu denken, neue Perspektiven zu finden.

Werners beste Nachwuchsmathematikerin ist auch die einzige Frau im Seminar, Marguerite. Drei Jahre hat sie an ihrer Dissertation „Arithmetische Folgen in endlichen Mengen ganzer Zahlen“ gearbeitet. Doch bei der Vorstellung ihrer Arbeitsergebnisse wird die Doktorandin von Lucas, einem neuen Zögling von Werner, auf einen Fehler in ihrer Beweisführung hingewiesen. Marguerite verliert die Nerven, und nachdem Werner ihre Doktorarbeit nicht länger betreuen will, haut sie Hals über Kopf ab. Nun versucht sie, sich mit Hilfsjobs durchzuschlagen, und nimmt Quartier in der Pariser Chinatown im 13. Arrondissement. Ihre flirtlustige WG-Mitbewohnerin Noa ist in jeder Beziehung das Gegenteil der verhuschten Marguerite.

Doch Marguerites Anpassungsschwierigkeiten erweisen sich als Rosskur, die zu neuen Gedankenblitzen führt. Die existenzielle Nuss, die Marguerite knacken will – die Goldbachsche Vermutung – wird dank ihres Tapetenwechsels zum Katalysator eines individuellen Reifeprozesses. Mit Werner und besonders dem im Gegensatz zu Marguerite unkomplizierten Lucas fehlen aber noch zwei wichtige Komponenten in ihrer Gleichung. Und auch Marguerites Problem mit ihrer Mutter lässt sich nicht mit Formeln lösen.

Der gute Ausgang dieses Ausbruchs aus der Sphäre der Wissenschaft ins pralle Leben, angefüllt mit Normalos, mit denen Marguerite ständig auf Kollisionskurs gerät, ist im Groben vorhersehbar. Dennoch überrascht dieser kleine Film mit unorthodoxer Körper-Geist-Kombinatorik. Marguerite darf die hochintelligente, sozial ungelenke, ungestylte Brillenschlange bleiben, deren direkte und manchmal aggressive Art auch lustig ist, gerade weil Marguerite selbst jeder Humor abgeht.

Der Film, zum Teil angesiedelt in der Pariser Elite-Hochschule ENS, ist nebenbei eine Studie der Isolation eines weiblichen Nerds in einer Männerwelt. Ihr lustig-lockerer Rivale Lucas findet sofort Anschluss, während die Außenseiterin Marguerite sich unsichtbar macht.

Die zweisprachige Schweizer Schauspielerin Ella Rumpf, die bisher unter anderem in Nebenrollen in deutschen Filmen wie „Asphaltgorillas“ und „Gut gegen Nordwind“ aufgetreten ist, feiert mit dieser Rolle, für die sie einen César als beste Nachwuchsdarstellerin verliehen bekam, ihren Durchbruch. Abwechselnd verletzlich, unliebenswürdig und herumkommandierend, verleiht sie diesem Charakter in all seiner Kantigkeit überdies Spitzbübigkeit und vertrackten Charme: ein Frauenporträt, dessen Schillern man so schnell nicht vergisst.

Psychologisch interessant ist auch ihr Gegenspieler, Jean-Pierre Darroussin als mephistophelischer Doktorvater und Mentor. Er wirft seiner Vorzeigestudentin zu viel Gefühl vor, obwohl sie die besten Gründe für ihre Stinkwut auf ihn hat. Wie nebenbei wird in diesem mentalen Hauen und Stechen deutlich, wie sehr die vermeintlich rationale Wissenschaft von Eitelkeit, Statusdenken und Konkurrenz geprägt ist.

Es ist erfrischend anzusehen, wie Marguerite sich von einem „Heureka!“ zum nächsten die Welt nach ihren Vorstellungen formt, ihr „erstes Mal“ organisiert, zur Mahjong-Lokalberühmtheit wird und die Wände des Apartments mit Formeln bekritzelt. Und es ist darüber hinaus erfreulich, wie subtil Regisseurin Anna Novion die Vorzüge des Gegen-den-Strich-Handels herausarbeitet und wie unterspielt das Happy End ist, das sie ihrer sturen Heldin gönnt.