Der Filmregisseur Peter von Kant wütet. Aus Verzweiflung über eine gescheiterte Liebe, aus Aversion gegen seinen Beruf, vielleicht auch aus Abscheu gegenüber der Welt. Zumindest brüllt er seine Mutter an, als diese ihn zu seinem Geburtstag besuchen kommt. Und sie ist die einzige, die ihn mit einer strengen Sanftheit beruhigen kann. „Es ist die Angst, die uns klein macht“, sagt sie. Verkörpert wird die Mutter von Hanna Schygulla, die am 25. Dezember 80 Jahre alt wird.
Der französische Regisseur François Ozon hat in „Peter von Kant“ das Theaterstück und den Film „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ des von ihm verehrten Filmemachers Rainer Werner Fassbinder neu verfilmt. Unschwer ist Peter von Kant als ein Fassbinder-Wiedergänger zu erkennen. Die Mutter ist nur eine kleine Rolle, aber eine mit Größe. Und in solchen Rollen hat man Hanna Schygulla in letzter Zeit öfter gesehen, bei Fatih Akin („Auf der anderen Seite“) oder in Ozons Sterbehilfe-Film „Alles ist gut gegangen“.
Natürlich wirkt Hanna Schygulla in Fassbinders „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ aus dem Jahr 1972 auch mit, es war ihre zwölfte Zusammenarbeit mit dem Regisseur. In den 1970er und frühen 80er Jahren war sie die „leading lady“ des deutschen Autorenfilms. Sie spielte Frauenrollen, wie man sie so nicht kannte: verführerisch und intellektuell, lasziv und gleichzeitig eiskalt, eine Frau mit dem Willen zur Selbstbehauptung, aber auch zur Unterwerfung. Etwas Melancholisches, Müdes, aber auch traumwandlerisch Entrücktes geht von ihren Figuren aus, die manchmal wirken, als stünden sie neben sich.
Die Leinwandfiguren der Hanna Schygulla, geboren 1943 im polnischen Kattowitz, sind unweigerlich mit Fassbinder verknüpft. Ihn hat sie einmal als die „stärkste Figur in meiner Vergangenheit“ bezeichnet. Sie lernte ihn auf der Schauspielschule kennen, als er schon der führende Kopf des Münchner „action-theaters“ war. Zwei Tage vor der Premiere sprang Schygulla für eine andere Schauspielerin als „Antigone“ ein und wirkte dann in mehreren Produktionen Fassbinders mit. Nach dem Zusammenbruch des „action-theaters“ gründete sie mit ihm das „antitheater“.
Mit dieser Gruppe und unter der Regie von Fassbinder drehte sie 1969 ihren ersten Langfilm, „Liebe ist kälter als der Tod“. Hanna Schygulla spielt in diesem Gangsterfilm eine Prostituierte, die darauf wartet, dass ihr Zuhälter (Fassbinder) sie heiratet. „Liebe ist kälter als der Tod“ ist, wie viele Filme von Fassbinder, sehr stilisiert gedreht, schwarzweiß und mit langen Kamerafahrten, mit viel Gespür für die Tristesse der Vorstädte und ihre nächtlichen Straßen. „Vorstadt-Marilyn“ haben die Kritiker Hanna Schygulla nach diesem Film genannt.
In fast allen frühen Filmen von Rainer Werner Fassbinder hat sie mitgespielt, unter anderem in „Katzelmacher“ (1969), „Warum läuft Herr R. Amok?“ (1970) und „Der Händler der vier Jahreszeiten“ (1972). Eine ihrer einprägsamsten Rolle war die Effi in Fassbinders „Fontane Effi Briest“ aus dem Jahr 1974, die Schygulla in einer Mischung aus Naivität und Unschuld spielt.
Seit Mitte der 1970er Jahre wirkte sie auch in Filmen anderer Regisseure mit, etwa in „Falsche Bewegung“ von Wim Wenders (1975) oder in „Ansichten eines Clowns“ von Vojtech Jasny. Aber international bekannt wurde sie durch eine weitere Zusammenarbeit mit Rainer Werner Fassbinder: In „Die Ehe der Maria Braun“ (1978) verkörpert Hanna Schygulla eine starke Frau, die sich durchschlagen muss in den Nachkriegskriegswirren und die zum Vorbild wurde für ähnliche Frauenrollen im deutschen Film.
Später arbeitete sie vornehmlich international, stand für Ettore Scola, Marco Ferreri, Volker Schlöndorff oder Jean-Luc Godard vor der Kamera. Im deutschen Kino gab nach Fassbinders Tod im Jahr 1982 eine andere Generation von Regisseuren mit Beziehungskomödien einen neuen Ton an, zu dem die Schygulla nicht so recht passen wollte.
Zwei Jahrzehnte lang hat sie sich um ihre kranken Eltern gekümmert, war lange nicht auf der Leinwand zu sehen. Aber sie trat in Soloprogrammen auf und entdeckte ihr zweites Talent: den Gesang. Sie hat Peter Handke und Kurt Tucholsky für ihre Chanson-Abende adaptiert und Kurt Weills „Die sieben Todsünden“ mit den Münchner Philharmonikern aufgeführt.
Und im kommenden Jahr wird Hanna Schygulla wieder mit einer kleinen großen Rolle auf der großen Leinwand zu sehen sein: In „Poor Things“ von Yorgos Lathimos’, einer Variation der „Frankenstein“-Geschichte, spielt sie eine Freundin der – diesmal weiblichen – von Menschenhand geschaffenen Kreatur. Vor kurzem, beim Festival in Venedig, hat der Film den Goldenen Löwen gewonnen.