Eine schwangere Schriftstellerin mit senegalesischen Wurzeln beobachtet in Saint Omer die Gerichtsverhandlung gegen eine junge Frau, die wegen Kindstötung angeklagt ist.
In Zusammenarbeit mit filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission gibt die KNA Tipps zu besonderen TV-Filmen:
In einem Gerichtsprozess in der französischen Stadt Saint Omer soll über die Senegalesin Laurence Coly (Guslagie Malanga) geurteilt werden, die ihr 18 Monate altes Kind ertränkt hat. Die junge, ebenfalls im Senegal geborene Schriftstellerin Rama (Kayije Kagame) beobachtet den Prozess, weil sie sich dem Fall in ihrem nächsten Buch über die thematisch verwandte Medea-Sage nähern will. Im Laufe der Verhandlung aber zeigt sich, dass beide Frauen viel miteinander verbindet.
Das mit präzisem Minimalismus inszenierte, fast theaterhafte Drama über Mutterschaft und Rassismus ist der erste Spielfilm der Dokumentaristin Alice Diop. Dabei hat Diop kein herkömmliches Gerichtsdrama im Sinn. Schon früh ist klar, dass das Urteil der Justiz von nachrangiger Bedeutung ist. Die Themen formuliert sie dabei nicht thesenhaft aus, sondern widmet sich eher persönlichen Erfahrungen. Mitunter fällt der Film von 2022 etwas spröde und vage aus, ist aber durch seine genauen Beobachtungen und die hinter der Oberfläche brodelnden Gefühle auch ungemein fesselnd. Insbesondere betont Diop die Bedeutung von Blicken, die zu verstehen helfen.
An der französischen Küste soll die aus Senegal stammende Studentin Laurence Coly (Guslagie Malanda) ihr 15 Monate altes Kind ertränkt haben. Im Zentrum des Films “Saint Omer” steht der nachfolgende Prozess in der gleichnamigen Stadt. Dabei erwartet den Zuschauer aber kein herkömmliches Gerichtsdrama.
Die ungewöhnlich sanftmütige Richterin (Valerie Dreville) liest zu Beginn zwar die Namen der Geschworenen vor, jedoch bekommt man keinen einzigen je zu Gesicht. Es ist ein frühes Indiz dafür, dass das Urteil hier entweder den Zuschauern überlassen bleibt oder am Ende vielleicht gar keine Rolle spielt.
Im ersten Spielfilm der französischen Dokumentaristin Alice Diop lernt man zunächst die ebenfalls aus einer senegalesischen Familie stammende Rama (Kayije Kagame) kennen. Sie lehrt an der Uni und beobachtet den Prozess für ihr neues Buch, in dem sie sich dem Kriminalfall über die antike Medea-Sage nähern will.
Ähnlich wie die mythologische Figur Medea bleibt auch die angeklagte Laurence in Frankreich eine Fremde und Außenseiterin. Sie lässt sich auf eine ungleiche Beziehung mit einem Einheimischen ein und tötet schließlich aus Verzweiflung ihr eigen Fleisch und Blut.
Was Rama genau an dieser Geschichte interessiert, bleibt eine Weile nebulös; die junge Frau ist wegen ihrer konsequent verschlossenen Art eigentlich ohnehin ein schwierige Kinofigur. Trotzdem entwickelt sie durch ihre mächtige Statur und das markante, von langen Braids gerahmte Gesicht eine fesselnde Präsenz. Man sieht Ergriffenheit und Angst in ihrem durchdringenden Blick. Sehr lange bleibt Rama passiv, wie ein Medium, durch das man die Ereignisse wahrnimmt.
Die Verhandlung inszeniert Diop mit präzisem Minimalismus wie eine Theateraufführung. Geduldig verharrt die Kamera auf einzelnen, meist in der Bildmitte platzierten Darstellern: auf der empathischen Richterin, der ähnlich behutsam agierenden Anwältin und vor allem auf Laurence. Während Rama die meiste Zeit schweigt, offenbart Laurence sich in ausführlichen Monologen über ihr von Entfremdung, Isolation und Auflösung geprägtes Leben. Wenn zwischendurch auf eine der bewegungslosen Zuhörerinnen geschnitten wird, meint man manchmal, das Bild wäre eingefroren.
Diese enorme Konzentration auf Sprache und Körper fühlt sich in “Saint Omer” gelegentlich ein bisschen trocken an. Aber letztlich führt die radikale Reduktion zur intensiv spürbaren Emotionalität. Die Figuren wirken permanent angespannt; sie sprechen oft ausdruckslos, aber erzählen dafür viel über ihre glühenden Augen. Besonders in Laurence scheint es zu brodeln.
Statt um die Durchleuchtung des Kriminalfalls geht es mehr um persönliche Erfahrung. Mit der Zeit wird klar, dass Rama ihre eigenen Ängste in Laurence Schicksal wiederfindet. Auch sie hat ein distanziertes Verhältnis zu ihrer Mutter, auch sie ist schwanger. Als sie sich beim Mittagessen einmal ein Bier bestellt, scheint sie sich – wenn auch in wesentlich indirekterer Form als Laurence – sogar zerstörerisch gegen ihr eigenes Kind zu wenden.
“Saint Omer” widmet sich Themen wie Mutterschaft und Rassismus, ohne sie thesenhaft auszuformulieren oder in dramatischen Konflikten aufzulösen. Mehrmals beschwört Diop ein weibliches Gemeinschaftsgefühl herauf. Während einer Vorlesung von Rama lenkt sie die Kamera auf interessierte Studentinnen; und die Verhandlung schafft durch Aufnahmen von wissenden Zuhörerinnen eine verständnisvolle Atmosphäre.
Nähe wird im Film meist durch Blickkontakt hergestellt. Dieser Kontakt kann aufrütteln und erschüttern. Als sich Rama am Laptop eine Szene aus Pasolinis Medea-Verfilmung ansieht und sich von der Hauptdarstellerin Maria Callas angestarrt fühlt, schreckt sie ebenso zurück wie im Gerichtssaal, als Laurence sie einmal lange und vertraut ansieht. Es wirkt ein bisschen pathetisch, wenn die Darstellerinnen gegen Ende mehrmals direkt in die Kamera blicken, aber es folgt durchaus der Logik, dass Blicke verstehen helfen. “Saint Omer” ist wie ein Puzzle, bei dem einige Teile fehlen, das Bild aber trotzdem erkennbar ist.