881 Bundesrichter stehen am Sonntag in Mexiko zur Wahl – darüber hinaus hunderte regionale und lokale. Sechs riesige, im Volksmund „Akkordeon“ genannte Stimmzettel erwarten die Bürgerinnen und Bürger. Die Regierung möchte mit dieser erstmaligen Wahl den korrupten Justizapparat reformieren und so gegen die anhaltende Gewalt und Straflosigkeit im Land vorgehen.
Laut dem Umfrageinstitut Parametria sind vier von fünf Befragten mit der direkten Richterwahl einverstanden, um diese Missstände zu bekämpfen. Juristenverbände und die Opposition hingegen befürchten die Gleichschaltung der dritten Macht im Staat.
Pro Bundesstaat bewerben sich 90 Juristinnen und 89 Juristen für ein Bundesrichteramt, im ganzen Land sind 3.422 Kandidaten registriert, ausgewählt vom Parlament, der Regierung und der Judikative. Nicht alle von ihnen haben einen guten Leumund. Das organisierte Verbrechen, das schon lange Richter bedroht, versucht auch in der neuen Judikative Einfluss zu nehmen. So verteidigte etwa Silvia Delgado den Mafiaboss Joaquín „El Chapo“ Guzmán. Nun will sie Strafrichterin werden.
Für den Obersten Gerichtshof bewerben sich 64 höchst unterschiedliche Kandidaten. Darunter César Gutiérrez Priego, der Folter-Generäle verteidigte, aber auch Hugo Aguilar Ortiz, der seit dem 19. Jahrhundert der erste indigene Oberrichter werden könnte. Paritätisch werden fünf Frauen und vier Männer in die höchste Instanz gewählt.
Die Richterwahl stieß der linke Präsident Andrés Manuel López Obrador (2018-2024) an. Mit ein Grund war der Widerstand der konservativen Justiz gegen tiefgreifende Reformvorschläge. Nach der Wahl seiner Nachfolgerin Claudia Sheinbaum boxte die Regierungspartei Morena mit ihrem Bündnis die Justizreform gegen alle Proteste durch.
Die Opposition befürchtet, Morena werde nun auch die dritte Macht im Staat kontrollieren. „Wählen zu gehen ist gleichbedeutend mit der Legitimierung eines Staatsstreichs“, warnt der Multimillionär Ricardo Salinas Pliego auf der Plattform X. Der Besitzer des Medienimperiums TV Azteca ruft zum Boykott auf. Dem hält Präsidentin Sheinbaum entgegen, die Justiz sei in der Vergangenheit nie unabhängig gewesen, sondern habe den Interessen der Politik und der Unternehmer gedient.
Die Organisationen der Zivilgesellschaft wägen die Risiken und Chancen der Volkswahl ab. Für den Koordinator des mexikanischen Menschenrechtsnetzwerks „Red TDT“, Víctor Hugo López, ist der Justizapparat „durch eine strukturelle Gewalt gezeichnet, die in Straflosigkeit endet“. Die Wahl der Bundesrichter ein Versuch, mit dieser korrupten Macht zu brechen. „Neue, engagierte Richter könnten den Apparat umwälzen, professionalisieren“.
Doch eine tiefgreifende Reform müsste die Ermittlungsbehörden einbeziehen, betont López im Gespräch mit dem epd. Denn am Anfang des Justizversagens stünden die Ermittlungsbehörden:
„Die Anklageschriften sind das Rohmaterial, das den Richtern als Grundlage für die Urteilsfindung dient“ und diese seien meist mangelhaft. Zudem versuchten viele Ermittler, von den Opfern oder von den Tätern Geld zu erpressen.
Am ersten Junisonntag haben knapp 100 Millionen Wahlberechtigte die Qual der Wahl. Das Verfahren ist nicht einfach, so wird auch nach Rechtsgebiet der Kandidatinnen und Kandidaten unterschieden. Mit mehreren Videos erläutert die Wahlbehörde das Verfahren und versichert, dass es komplizierter erscheine als es sei. In den sozialen Netzwerken zirkulieren zahlreiche Listen mit Vorschlägen, auch von der Regierungspartei Morena.
Die Direktorin der Wahlbehörde, Guadalupe Taddei Zavala, geht von einer niedrigen Wahlbeteiligung aus. Trotz der angeregten gesellschaftlichen Diskussion schätzt Taddei, dass aufgrund der hohen Komplexität der Wahl nur rund 20 Prozent der Mexikaner in einer der 84.000 Wahlurnen ihre Stimme abgeben werden. Mexiko geht mit der Richterwahl neue Wege – ob sie in Richtung mehr Gerechtigkeit oder Autokratie führen, wird die nahe Zukunft zeigen.