Schon früher fiel Gabriel Zuchtriegel, Direktor der Ausgrabungen von Pompeji, mit seinem Gespür für soziale Themen auf. Jetzt wendet er sich dem Aufstieg des Christentums in einer Zeit brüchiger Ordnungen zu.
Im August des Jahres 79 begrub der Ausbruch des Vesuv die Stadt Pompeji unter glühender Lava und Asche. Binnen weniger Stunden erstarb das Leben von 20.000 Menschen. Die Katastrophe fiel in eine Ära wirtschaftlicher Blüte und Ausdehnung des römischen Reichs. Aber schon länger hatten sich in der Gesellschaft Spannungen und Risse gezeigt. Überkommene Gewissheiten, auch religiöse, gerieten ins Wanken. Zugleich begann ein neuer Glaube sich auszubreiten, der das Antlitz der Erde verändern sollte: das Christentum. Vorzeichen dieses Umbruchs finden sich in der verschütteten Stadt. Ihnen spürt der Archäologe Gabriel Zuchtriegel nach.
Sein Buch “Pompejis letzter Sommer” handelt nicht nur von dem Untergang, der Zeitzeugen glauben ließ, die Welt sei “von allenGöttern verlassen”; es geht um die Krise der antiken Ordnung und das “spirituelle Beben der Epoche”. Als Anschauungsmaterial dienen Zuchtriegel, dem Direktor des Archäologischen Parks Pompeji und damit einer der prestigeträchtigsten Kultureinrichtungen Italiens, nicht zuletzt die Ausgrabungen der vergangenen Jahre, die das erschlossene Areal beträchtlich vergrößert haben.
So werfen etwa die zahlreichen Graffiti und Dekorationen in Bordellen ein Licht auf Menschenbild und Menschenwürde im antiken Pompeji. Die Tempel der Stadt und die Wandmalereien im neuentdeckten “Haus des Thiasos” verraten etwas vom allmählichen Fremdwerden des alten Götterglaubens; Zeugnisse orientalischer Mysterienkulte berichten davon, wie Menschen angesichts des wankelhaften Lebens Heilsgewissheit und Gemeinschaft im Zirkel der Eingeweihten suchten.
Und allerorts finden sich, in die versteinerte Asche gebannt, Momentaufnahmen des sozialen Zusammenlebens: Da sind die Sklaven, die in vergitterten Verschlägen hausen; da ist der hochgestellte Stadtpolitiker Rustius Verus, der einen Freigelassenen und dessen Bäckereiunternehmen benutzt, um sich Wählerstimmen zu sichern; da ist der Mechanismus gegenseitiger Überwachung von rechtlosen Knechten in einem landwirtschaftlichen Betrieb.
Geradezu detektivisch geht Zuchtriegel dem nach, was die karge Ausstattung einer Unterkunft, Initialen auf einer Kornmühle, eine Kinderkritzelei auf einer Wand über das Gemeinwesen aussagen. Aus unscheinbaren Indizien fügt sich so das Bild einer Gesellschaft, die von innerer Verunsicherung, menschlicher Verrohung und einem System der Angst geprägt ist, das alle Schichten bis hinauf zum Kaiserhaus umfasste.
Aus Sicht von Zuchtriegel erklärt dies die Attraktivität des neuen christlichen Glaubens: Hier war eine Botschaft, die die Menschenwürde in den Mittelpunkt stellte, Standesunterschiede relativierte und letztlich auch die Machthaber von der Angst vor ihren Untertanen befreite. Zugleich erklärt die Spiritualisierung der “Freiheit in Christus”, dass eine soziale Revolution ausblieb: “Die Befreiung findet im Kopf statt, äußerlich kann alles bleiben, wie es ist.”
Zuchtriegel nimmt seine Leser mit wie auf einen Rundgang durch Pompeji: Er beschreibt und erzählt locker, lässt sich bei Ausgrabungen wie bei den Problemen um Konservierung und Verwaltung über die Schulter schauen. Immer wieder schlägt er von den antiken Gegenständen Verbindungen zur Gegenwart, sei es, wenn es um das Geschlechterverständnis geht, um Spiritualität im Alltag oder sozial gerechte Wirtschaftssysteme. Man merkt: Für Zuchtriegel hat Altertumswissenschaft zutiefst etwas mit der Gegenwart zu tun.
Dazu gehört, dass er persönliche Motive und existenzielle Fragen transparent macht, die ihn in seiner Arbeit an- und umtreiben – wie eben die Frage, was das Zusammenleben von Menschen auszeichnet und ihrem Leben Sinn verspricht. Aus Zuchtriegels Beobachtungen lässt sich erahnen, was die Archäologie noch zur Ideen- und Sozialgeschichte um die Zeitenwende beitragen kann.
Über die Soziologie des frühen Christentums und die Stadt als Lebensraum der ersten Christen ist schon viel geforscht worden. In einen akademischen Austausch zu treten, ist nicht das Anliegen dieses Buchs. Was es glänzen lässt, ist, dass hier einer schreibt, der nicht zu überheblich ist, um sich in den Menschen des untergegangenen Pompeji wiederzuerkennen.