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Philosophie gegen Panik – Grübeln muss kein Teufelskreis sein

Ständige Zweifel und Gedankenkreisen: Viele Menschen leiden darunter. Dabei sind Gedanken nicht das Problem, sagt die Philosophin Judith Werner – sondern der Schlüssel zur Lösung. Wie Nachdenken den Kopf befreien kann.

Warum hat meine Freundin nicht zurückgeschrieben? Ist sie sauer auf mich? Habe ich etwas falsch gemacht? Soll ich ihr einen Kuchen vorbeibringen, zur Versöhnung?

Nachdenken ist nichts Außergewöhnliches. Manchmal aber kreisen Gedanken ohne Ergebnis, steigern sich zu Spiralen – auch wenn es für Außenstehende um Kleinigkeiten geht. Grübeln ist qualvoll – und trotzdem ein Sog, dem man nur schwer entkommen kann. Wie also damit umgehen?

Die Philosophin Judith Werner schreibt in ihrem soeben veröffentlichten Buch “Besser grübeln”, warum Nachdenken kein Problem sein muss, sondern sogar die Lösung für chronische Grübler sein kann: indem es das Grübeln hinterfragt und den Blick weitet. Werner zieht prominente Denkerinnen und Denker als “Travel-Buddys” heran: Sokrates, Giordano Bruno oder Hannah Arendt sind ihr Zweifler und Hoffnungsträger in einem. Werners These: “Mehr zu denken ist immer besser als weniger zu denken.”

“Nachdenken ist nichts Negatives. Vorüberlegungen zu Zukunftsszenarien können sogar sehr hilfreich sein”, sagt Werner im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Problematisch werde es, wenn jemand aus dem Gedankenkarussell nicht mehr herauskomme. Oder auch: “Wenn wir in Zukunftsängsten stecken bleiben und uns zwischen A und B nicht entscheiden können”, sagt Werner. “Dann kommen wir nicht zum eigentlichen Handeln.”

Betroffen sind viele Menschen. Ein Forschungsteam der University of South Wales hat per Umfrage ermittelt, dass rund 38 Prozent aller Erwachsenen täglich grübeln. Meistens dauern Gedankenschleifen 20 Minuten oder länger. Im Netz hat das Phänomen unter dem Begriff “Overthinking” längst einen eigenen Markt gefunden. Ratgeberportale, Influencer und Coaches geben Tipps gegen chronisches Grübeln: Meditiere, höre beruhigende Musik, schreibe Gedanken auf, sage nach fünf Minuten Grübeln “stopp”.

Gedanken lassen sich aber nicht einfach abstellen. “Ich habe mich schon durch viele Entspannungsapps gearbeitet”, berichtet Werner. “Sie haben aber nur kurz gewirkt.” Ablenkungen wie Spaziergänge oder Meditationen lieferten Pausen, aber keine Lösungen. Die Autorin rät dazu, sich vom Versuch eines Gedankenstopps zu verabschieden – und sich stattdessen den “Schwung des Gedankenkarussells” zunutze zu machen: “Wir müssen nicht aufhören zu denken – sondern anfangen, besser zu denken.”

Als Alternative zum Overthinking rät sie zum Deepthinking: Gemeint ist Selbstreflexion. Die Fähigkeit also, einen Schritt zurückzutreten und zu überlegen: Warum mache ich mir diese Gedanken überhaupt? “Ein erster Schritt ist die Erkenntnis”, sagt Werner. Das bedeute wahrzunehmen: Ich grüble, befinde mich in einer Gedankenschleife. “Ich stelle mir also nicht die Frage: Was muss ich tun? Sondern: Warum fühle ich mich schlecht?”

Sorgen und Ängste ließen sich so einordnen – dann kann Nachdenken konstruktiv sein und neue Sichtweisen eröffnen. “Jeder Liebeskummer zum Beispiel hat seine Berechtigung, da kommen wir leicht ins Grübeln”, sagt die Publizistin. “In der Rückschau aber können wir uns auch die Frage stellen: War die Beziehung wirklich so gut? Warum habe ich manche Dinge so lange akzeptiert?”

Werner empfiehlt Grübelnden, dazu in die Rolle des Philosophen Sokrates zu schlüpfen: “Sokrates stellt kritische Fragen und leitet daraus Erkenntnisse ab.” Zum Beispiel: Warum beschäftigt es mich, dass eine Freundin nicht antwortet? Warum glaube ich, dass sie sauer ist? Warum will ich mich versöhnen?

Nicht auf alle Grübelattacken sei das Konzept anwendbar. “Einige Menschen leiden an Depression und brauchen bei Gedankenkreisen professionelle Hilfe.” In schwierigen Lebenslagen, etwa bei Krankheit oder Tod im persönlichen Umfeld, sei Grübeln zudem selbstverständlich. “Als ich persönlich an Krebs erkrankte, ging es um Leben und Tod”, sagt Werner. “Da musste ich mich nicht fragen: Ist das wirklich so schlimm?” Sie habe aber die Erfahrung gemacht, dass es “mehr hilft, weiterzudenken als einfach nur zu verdrängen: Es kann helfen, trotz allem Hoffnung und Akzeptanz zu finden.”