Die Leiterin des deutsch-französischen Festivals Perspectives, Kira Kirsch, will das Angebot inklusiver gestalten und ein neues Publikum ansprechen. „Wir sind natürlich nicht barrierefrei, aber viele Stücke sind barrierearm, gerade für gehörloses Publikum, weil wir wenig Sprache verwenden oder mit Übertitelung arbeiten“, sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die von Donnerstag bis zum 14. Juni laufende 47. Festivalausgabe ist ihre erste.
epd: Wie blicken Sie auf die diesjährige Festival-Ausgabe?
Kira Kirsch: Es ist meine erste Ausgabe und das macht sie natürlich sehr aufregend. Viele Dinge, die schon vorher da waren, erlebe ich zum ersten Mal und gleichzeitig probieren wir ein paar neue Sachen aus. Ich mache das ja nicht allein. Das ganze Team war und ist offen, zugewandt und unterstützend. Ohne Célia Galiny, die aus den früheren Perspectives-Jahren so viel weiß, wäre die diesjährige Ausgabe so nicht möglich gewesen. Ich freue mich auch sehr, dass einige Künstlerinnen und Künstler, mit denen ich bereits zusammengearbeitet habe, kommen. Dazu gehören etwa die Gruppe DARUM oder Doris Uhlich.
epd: Was probieren Sie beispielsweise aus?
Kirsch: Wir wollen, dass die Künstlerinnen und Künstler länger hier sein sowie sich mit der Gegend und den unterschiedlichen Spielstätten vertraut machen können. Moritz Praxmarer wird etwa mit seinem Objekttheater „The Story of Larry“ oft den Spielort wechseln, über die Ländergrenzen gehen und zwischendurch auch noch beim „Marionettefestival“ in Luxemburg sein. Der längere Aufenthalt ermöglicht auch, dass Leute einander Stücke empfehlen können und wir so neues Publikum generieren, weil sie sich ein Stück ein paar Tage später noch anschauen können.
epd: Wie haben Sie die Stücke thematisch ausgewählt?
Kirsch: Wir haben im vergangenen Jahr zusammengesessen und uns genau überlegt, welche Themen der Gesellschaft uns interessieren. Alter in der Gesellschaft gehörte etwa dazu, was wir mit Doris Uhlig und „Come Back Again“ im Programm haben. Eines unserer Gratis-Stücke, „Cinq minutes avec toi“, beschäftigt sich damit, dass alle am Handy hängen – Eltern sich nicht mit ihrem Kind beschäftigen und ihm das Handy geben oder selbst daran hängen.
Mich interessiert, wie man auch mal andere Narrative und andere Blicke auf die Welt zeigen kann, als sie in den sogenannten Mainstream-Medien präsent sind. Farm Fatale von Philippe Quesne kann man etwa als Postapokalypse beschreiben, in der alle Menschen tot sind und nur Vogelscheuchen überlebt haben. Oder es geht um die Erzählung, dass sich eine Gruppe gefunden hat, die versucht, etwas zu bewahren und Neues zu schaffen. Das ist dann eine Erzählung von Optimismus, der dem Ganzen auch inne liegt.
epd: Wie politisch sollten Kultur, Theaterstücke oder ein Festival generell sein?
Kirsch: Ich halte Kultur immer für gesellschaftlich relevant. Es geht um das Zusammenbringen von Menschen und die Offenheit der Veranstaltungen selbst: Für wen ist es zugänglich? Für wen kann man was zeigen? Welche Räume kann man öffnen? Das hat für mich etwas sehr Politisches. Es ist ein großer Unterschied, ob ich ein Projekt in Theaterräumen mit einem bestimmten Verhaltenskodex und benötigter Sprachkenntnis zeige oder ob man in einem Bürgerpark ein Projekt macht, was ohne Sprache funktioniert. Beim Festival setzen wir uns mit zeitgenössischen Arbeiten auseinander, denen immer etwas Politisches beiwohnt. Bei Perspectives reflektieren wir auch über Grenzen: Wir sind in Deutschland und in Frankreich. Wie bewegen wir uns da? Mit wem sprechen wir in welcher Sprache?
epd: Sie hatten bei der Pressekonferenz angekündigt, dass das Festival barriereärmer werden wolle. Könnten Sie das etwas ausführen?
Kirsch: Wir beginnen einen Weg. Für den Anfang probieren wir zwei Dinge aus. Wir haben versucht, das Festival überhaupt erst einmal in die Deutsche Gebärdensprache (DGS) zu übersetzen. Wir sind natürlich nicht barrierefrei, aber viele Stücke sind barrierearm, gerade für gehörloses Publikum, weil wir wenig Sprache verwenden oder mit Übertitelung arbeiten. Dafür haben wir mit Anne Harth zusammengearbeitet, die Expertin in eigener Sache ist. Sie hat mit „Au Jardin des Potiniers“ ein Stück ausgewählt, für das es nun eine Einführung in DGS gibt. Das ist ein erster Schritt. Momentan können wir es uns nicht leisten für jedes Projekt diese Übersetzung zu machen. Und dann kommt noch hinzu, dass wir zweisprachig sind und auch noch die französische Gebärdensprache bräuchten.
Unser zweites Projekt ist „Société Anonyme“ von Rimini Protokoll, bei dem das blinde und das sehende Publikum ein sehr ähnliches Erlebnis hat. Sie lauschen in völliger Dunkelheit, mit wenigen Leuten auf der Bühne den Geschichten von Menschen. Zudem begleitet die blinde Performerin Gül Pridat die Menschen durch den Abend. Wir haben versucht, dieses Angebot verstärkt in die blinde Community zu kommunizieren.
epd: Wie soll es danach weitergehen?
Kirsch: Wir werden es nicht schaffen, alle Projekte gleich inklusiv zu machen. Ich hoffe, dass wir dafür auch eine größere Förderung bekommen können – mit dem laufenden Budget ist das nicht so einfach. Gut ist, wenn die Inklusivität stärker aus den Projekten selbst kommt und nicht von außen aufgesetzt wird. Außerdem sind wir auf Expertinnen und Experten in eigener Sache angewiesen. Optimalerweise kommt jemand auch einfach mal auf uns zu und sagt: Das ist nicht geeignet. Wenn mit Gebärden gedolmetscht wird, muss die Person zum Beispiel in hellem Licht stehen, weil sonst die Gebärden nicht gesehen werden. Das beißt sich aber mit den meisten Bühnenbildern.
epd: Was erhoffen Sie sich von der diesjährigen Festivalausgabe?
Kirsch: Schön wäre, wenn das Publikum erst einmal eine Art Überraschung mitnimmt: Ach, sie sind hier, die machen das und das würde ich gerne sehen. Am besten folgt dann daraus, dass sie im nächsten Jahr wiederkommen wollen oder anderen davon erzählen, die das bisher nicht mitbekommen haben. Perspectives ist ja bereits ein etabliertes Festival. Es gibt trotzdem noch viele, die nicht so oft kommen, obwohl sie es kennen. Ich würde mir wünschen, dass wir hier und dort ein wenig ausfransen und darüber noch einmal neues Publikum gewinnen. Generell haben wir auch schon viele Ideen, die wir künftig gerne umsetzen wollen. Da geht es etwa um ein Format zwischen den Festivalausgaben – unter anderem ein Podcast wäre vorstellbar.