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Opfer im Schatten

Die Opfer von Gewalt wurden lange Zeit kaum wahrgenommen, während die Täter jede Menge Aufmerksamkeit erhielten. Das ändert sich gerade – was kann die Kirche dazu beitragen?

50 Menschen sind einem rechtsextremistischen Attentäter in zwei neuseeländischen Moscheen zum Opfer gefallen, und viele weitere kämpfen noch mit ihren Verletzungen. Der mutmaßliche Täter wurde festgenommen. Sein Name jedoch wird in der Öffentlichkeit so gut wie nicht genannt. Premierministerin Jacinda Ardern hat sich geweigert, ihn auszusprechen. „Nennen Sie die Namen derer, die ihr Leben verloren, statt des Namens des Mannes, der sie auslöschte“, forderte sie. Ein Schritt mit einer großen Symbolik, der den Opfern Namen und Würde gibt und sie dem Täter verweigert. Ein ungewöhnlicher Schritt: Denn meistens läuft es andersherum.

Oft stehen die Täter im Mittelpunkt des Interesses und der Berichterstattung. Ihre Namen werden genannt, ihre Taten ausführlich dargestellt; nach ihren Motiven wird gefragt, ihre Geschichte ausgeleuchtet. Die Opfer dagegen bleiben oft seltsam gesichtslos. Dabei sind sie es, die die Folgen der Tat tragen; manchmal körperlich, immer aber seelisch, und das oft ein Leben lang.

Wir sind „täterorientiert“ und „opfervergessen“, schreibt der Theologe Jürgen Moltmann (siehe Seite 2). Aber warum ist das so? Sind wir fasziniert von denen, die Böses tun – und distanzieren uns eher von denen, denen Böses angetan wird? Interessiert uns das Handeln mehr als das Erleiden, die Schuld mehr als die Unschuld?

Oder ist es die Scham, die Leidtragende im Verborgenen verharren lässt? Wer Opfer wird, schämt sich oft genau dafür, auch wenn er keinerlei Möglichkeit hatte, in das Geschehen einzugreifen. Nicht von ungefähr ist das Wort bei Jugendlichen als Schimpfwort beliebt. Opfer sein, das heißt: passiv etwas über sich ergehen lassen. Die Täter dagegen sind aktiv. Sie tun etwas, verändern, gestalten – auch wenn das Ergebnis zerstörerisch ist. Dafür bekommen sie Öffentlichkeit – eine Form von Anerkennung, um die die Opfer lange und oft vergeblich kämpfen.

Jürgen Moltmann hebt noch einen weiteren Aspekt hervor: den Einfluss des Christentums, insbesondere der Rechtfertigungslehre. Schon Paulus habe sich einseitig auf die Täter-Seite der Menschen konzentriert – es geht um Taten als Sünde und um das Verhältnis des Sünders zu Gott. Die Opfer blendet Paulus aus. Im Alten Testament dagegen werde Gott als derjenige dargestellt, der den Armen Recht schafft; und Jesus habe sich ausdrücklich den Opfern von Unrecht und Gewalt zugewendet.

Aber wie kann die Rolle der Opfer verändert werden? Die „Me-too“-Bewegung oder auch die Vertreter der kirchlichen Missbrauchsopfer zeigen in jüngster Zeit, wie Leidtragende ihre passive Rolle verlassen und lautstark, zum Teil sogar rücksichtslos Aufmerksamkeit und Gerechtigkeit einfordern. Moltmann schlägt ein Ritual ähnlich dem Bußritual vor, das den Opfern Möglichkeiten gibt, Unrecht und Leid zu benennen. Es wäre eine Aufgabe für die Kirchen, ein solches Ritual anzubieten. Die Opfer, die mit den Folgen einer Gewalttat an Körper und Seele kämpfen, brauchen Unterstützung. Sie sind es, die unsere Aufmerksamkeit wirklich wert sind.