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Ohne zu fragen

Schon als Kind fand ich das Wort „Leichenschmaus“ seltsam. Und den Brauch erst recht. Da ist eine Beerdigung oder Trauerfeier und danach feiert man gewissermaßen zusammen? Und der Verstorbene ist vergessen? Meine Oma sagte dazu nur: „Das Leben fragt nicht. Es geht einfach weiter.“

Kürzlich war ich auf einer Beerdigung, die mit Kaffeetrinken begann. Schrecklich. Kaum jemand hat gesprochen. Allen lag das, was noch vor ihnen stand, auf der Seele. Nach dem Gottesdienst und der Beisetzung war die Heimfahrt geplant.
Doch niemand war in Eile. Die meisten hatten viel geweint, hatten noch ganz verquollene Gesichter. „Ich kann so nicht nach Hause fahren“, sagte eine. Daraufhin beschloss die Verwandtschaft, noch gemeinsam zum Abendessen zu gehen. Im Lieblingsrestaurant des Verstorbenen.
Dort wurde viel über ihn gesprochen. Erinnerungen wurden ausgetauscht. „Weißt du noch …?“, war oft zu hören. Die Stimmung wurde zusehends lockerer. Es wurde sogar gelacht.

Letztlich war das der eigentliche Leichenschmaus. Denn das ist Sinn und Zweck dieses Brauches: dass man sich nach der Trauerfeier oder Beerdigung zusammensetzt. Gemeinsam isst, trinkt und sich an den Toten erinnert. Dass die Trauernden erleben: Wir sind nicht allein.
Auch ich war froh über dieses Zusammensitzen. Ich wurde dankbar für das, was ich mit dem Verstorbenen erlebt hatte. An einige Situationen hatte ich lange nicht mehr gedacht. Ich habe erfahren, was andere an ihm geschätzt haben.
Da fiel mir wieder meine Oma ein. Jetzt war mir klar, was sie gemeint hat: Das Leben geht weiter. Ohne zu fragen.