Im Jahre 2007 erschütterte ein Missbrauchsskandal die Brüderschaft der Rummelsberger Diakonie. Der damalige Rektor hatte im Rahmen eines sogenannten wissenschaftlichen Experiments Diakone und Diakonenschüler misshandelt. Sie erlitten seelische und körperliche Gewalt. Ihr Peiniger verbot ihnen, über das, was sie erlebten, zu sprechen. In seiner Masterarbeit an der Hochschule Landshut hat Damian Rieder nun untersucht, was ein Schutzkonzept gebracht hat, das die Arbeitsgruppe „Umgang mit Macht“ nach den Vorfällen schrieb. Der Brudersenior Peter Barbian leitet im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) aus der Arbeit „Hausaufgaben“ für die Rummelsberger ab.
epd: Hat sich denn nach der Aufarbeitung und der Erarbeitung des Schutzkonzepts noch jemand für die Missbrauchsvorgänge der Jahre vor 2007 interessiert?
Peter Barbian: Die Betroffenen leben bis heute und sind immer noch präsent, aber es gibt selten Gelegenheiten, bei denen sie das Wort erheben. Es ist wieder eine große Normalität eingetreten. Wir haben das Thema mit starker externer Begleitung aufgearbeitet. Wir hatten die Hochschule Landshut und den Kinderschutzbund im Boot, der damals die Anlaufstelle für die Betroffenen war. Es entstand ein Handlungsleitfaden. Eine beauftragte „Kümmerin“, die sich des Themas annahm, musste danach einmal im Jahr in den Brüderschaftsversammlungen berichten, was der Stand der Dinge ist und wo noch etwas offen ist. So wurde das Thema immer wachgehalten.
epd: Liest man die jetzt erschienene Masterarbeit, ist aber das 2012 verabschiedete Schutzkonzept für die Brüderschaft allmählich aus dem Blick verschwunden. Warum war das so?
Barbian: Da kann ich nur Vermutungen anstellen: Das war damals ein Trauma, über das viele nicht mehr reden wollten. Es war drei Jahre lang ständig Thema. Vielleicht führte das dazu, dass wir in der weiteren Bearbeitung ein wenig müde wurden. Deswegen haben wir ja auch nach zehn Jahren die Überprüfung beauftragt, weil wir wissen wollten, sind wir wirklich gut unterwegs oder betriebsblind geworden? Für uns überraschend kam der Befund, es ist in Vergessenheit geraten und für viele Leute kein Thema mehr. Viele in der Brüderschaft kannten den Inhalt des Schutzkonzepts nicht. Wir sehen eine große Hausaufgabe darin, das jetzt neu anzugehen. Vom Autor der Masterarbeit kommen auch Empfehlungen, es zu überarbeiten. Dafür haben wir sofort eine Arbeitsgruppe eingesetzt.
epd: Ist das Schutzkonzept der Brüderschaft in den Einrichtungen und Bereichen der Rummelsberger Diakonie übernommen worden?
Barbian: Nun, dieses Konzept war schon sehr speziell für die Brüderschaft zugeschnitten gewesen. Aber es kamen zur gleichen Zeit auch gesetzliche Vorgaben im Bereich der Jugendhilfe und der Arbeit mit Menschen mit Behinderung. Aufgrund unserer Erfahrungen hatten wir die starke Motivation, dass unsere Dienste hier gut aufgestellt sind.
epd: Es wird in so einem großen Unternehmen wie dem Ihrem immer Machtmissbrauch geben. Wie gehen Sie dann damit um?
Barbian: Da, wo Menschen sind, gibt es Macht und den Missbrauch von Macht. Ein Schutzkonzept bewirkt, sensibel zu bleiben, Strukturen sofort zu hinterfragen, die unter Umständen Machtmissbrauch unterstützen könnten. An ganz vielen Punkten gibt es bei uns ein Vier-Augen-Prinzip, um Missbrauch zu verhindern. Wir sind ständig in der Evaluation. Wenn etwas vorgefallen ist, überprüft die Dienststelle, woran haben wir da nicht gedacht. Wenn in der Jugendhilfe ein Jugendlicher sagt, ein Mitarbeiter habe ihn angefasst, egal wie, ist der Mitarbeiter sofort suspendiert. Zugleich müssen wir aber auch sehen, dass falsch Beschuldigte wieder unbeschadet ihre Arbeit aufnehmen können. 100-prozentigen Schutz gibt es nicht, aber man kann Hürden aufbauen und innerhalb einer Organisation eine Kultur der Achtsamkeit entwickeln.
epd: Ist diese Kultur der Achtsamkeit bei den nachwachsenden Generationen der Diakone und bei den Mitarbeitenden heute selbstverständlicher als noch Anfang der 2000er-Jahre?
Barbian: Mein Gefühl ist, dass sie ein ausgeprägtes Empfinden dafür haben, wo Grenzen überschritten werden. Wenn ich es mit meiner Ausbildungszeit vergleiche, da war die Hürde höher. Die jungen Menschen jetzt melden sich sehr schnell, deutlich, ohne Angst zu Wort, wenn sie das Gefühl haben, dass bei jemand eine Grenze überschritten wird. Dieser Fortschritt ist gesamtgesellschaftlich passiert.
epd: Welche Ratschläge können Sie nach dem Erscheinen der Masterarbeit anderen Organisationen für ihre Schutzkonzepte geben?
Barbian: Ich glaube, dass alle diakonischen Einrichtungen inzwischen gut unterwegs sind. Sie müssen ja an Schutzkonzepten arbeiten. Wir haben aber einen gewissen Vorsprung. Aufgrund unserer Geschichte mussten wir uns zu einem früheren Zeitpunkt damit auseinandersetzen, haben dafür aber einen hohen Preis bezahlt – vor allem die jungen Menschen, die die Opfer waren. Wir wissen von 35 jungen Menschen, die betroffen waren. Wie viele es tatsächlich waren, kann man nicht sagen. Es haben sich eventuell manche nicht gemeldet, denn das Thema ist auch schambesetzt.
epd: Bei der Aufdeckung der Taten vor über 15 Jahren stand besonders der Täter, der damalige Rektor Karl-Heinz Bierlein, im Mittelpunkt des Interesses. Die Opfer fielen doch hinten runter.
Barbian: Ja, man hat die Betroffenen damals erstmal für schuldig erklärt. Ihnen wurde unterstellt, ein Komplott geschmiedet zu haben. Anfangs zündete man Kerzen vor dem Haus des Rektors an und betete für seine Familie, aber nicht für die Betroffenen. Das dauerte eine Zeit lang, bis alle begriffen, dass es wahr war.
epd: In der Masterarbeit ist auch beschrieben, dass im Rummelsberger Missbrauchskandal zunächst für eine Versöhnung zwischen Täter und Opfer gekämpft wurde. Diese hat man später aber für gescheitert erklärt. Ist keine Versöhnung möglich?
Barbian: Die Betroffenen erwarteten von Rektor Bierlein eine Entschuldigung und darauf, dass er als Täter seine Schuld anerkannte. Beides hat er nie getan. Versöhnung mit ihm herzustellen, war schon ein hoher Anspruch, der damals sehr stark von außen an die Betroffenen herangetragen wurde. Es war völlig irre, dass von ihnen erwartet wurde, dass sie sich versöhnen, aber niemand verlangte von Bierlein, dass er sich entschuldigte. Vergleichbares passiert jetzt wieder bei der Debatte um die ForuM-Studie zum Missbrauch in der Evangelischen Kirche in Deutschland.
epd: Der Rektor der Rummelsberger war jahrzehntelang der Repräsentant der Landeskirche in Rummelsberg. Die dienstrechtlichen Vorgänge der Diakone und Diakoninnen liefen über seinen Tisch. Heute passiert diese Verwaltungsarbeit bei der Personalabteilung der Landeskirche und nach dem Weggang von Reiner Schübel 2021 haben die Rummelsberger keinen Rektor mehr. Ist das eine langfristige Folge aus dem damaligen Geschehen?
Barbian: Das ist vielleicht eine Spätfolge. Schon zuvor ist die Position des Rektors ja stark beschnitten gewesen. Zu jungen Menschen in der Ausbildung gab es kaum mehr Kontakte. Innerhalb der Brüderschaft hatte der Rektor nur noch Gaststatus. In der Diskussion über einen Rektor nach dem Weggang von Rektor Schübel hat sicher unbewusst eine Rolle gespielt, was damals passiert war. Aber der Verzicht auf den Rektor war das Ende eines längeren Denkprozesses, den wir miteinander mit der Landeskirche gegangen sind. Jetzt ist die Verantwortung wieder direkt bei der Landeskirche. Auch als Folge der ForuM-Studie wird sie sich Gedanken zum Thema Macht machen. (1033/27.03.2025)