Artikel teilen:

Netflix-Serie “Die Glaskuppel” ist fesselnde Thriller-Unterhaltung

In der Netflix-Serie “Die Glaskuppel” wiederholt sich ab 15. April ein bizarrer Fall von Kindesentführung und ruft damit die Dämonen aller Beteiligten wach. Das ist “Skandi Noir” vom Feinsten.

Die Welt, in der wir leben, ist bekanntermaßen viel zu komplex für seriöse Prognosen. Es wirken schlicht zu viele Faktoren auf die Gegenwart ein, um ihre Zukunft verlässlich vorherzusagen. Wenn selbst das Wetter von morgen eher auf statistischer als meteorologischer Wahrscheinlichkeit beruht – wie soll man da den Entführungsfall in einer schwedischen Kleinstadt, deren Bewohner auf jede nur erdenkliche Art miteinander verbandelt sind, einigermaßen stimmig aufdröseln? Allein schon Zaid…

Im kriminalistischen Tohuwabohu des Netflix-Sechsteilers “Die Glaskuppel”, ist der als Vater der gekidnappten Alicia zwar eigentlich das Opfer. Weil sich der Suizid seiner Frau jedoch parallel als Mord erweist, für den Zaid wegen ihrer Trennungspläne festgenommen wird, gilt er auch als Täter. Bis sich herausstellt, dass wiederum sie eine Affäre mit dem örtlichen Polizeichef hatte, der als Nachfolger des Vaters eines früheren Entführungsopfers wegen mehrerer, teils rechtsradikaler Delikte im Zusammenhang mit Umweltverschmutzungen gegen ein Bergbauunternehmen ermittelt, das geleitet wird von – na? Genau: Zaid!

Chaostheoretiker hätten ihre helle Freude am verschachtelten Fortgang dieser Serie, für die der Begriff Skandi Noir einst erfunden wurde: bestialische Kapitalverbrechen in der wolkenverhangenen Atmosphäre des nordeuropäischen Winters – so tauchten Maj Sjöwall und Per Wahlöö, Henning Mankell und Stieg Larsson das hyggelige Schweden seit Jahrzehnten schon ins Blutrot abgründiger Ritualmorde. Und so machen es nun auch die Drehbuchautoren Amanda Högberg und Axel Stjärne nach Camilla Läckbergs Bestseller “Glaskupan”.

Denn diese “Glaskuppel” hat noch weit Bedrohlicheres zu bieten als ein paar der ortsüblichen Tötungsdelikte. Zu Beginn wird die forensische Psychologin Lejla (Leonie Vincent) von ihrer Forschungsstelle im mollig warmen San Diego in den USA heim ins klirrend kalte Granas zu einer Beerdigung gerufen. Dorthin also, wo sie ein Unbekannter als Kind wochenlang scheinbar grundlos in einem Glaskasten – daher der Name – eingesperrt hatte. Dass der gleichaltrigen Alicia nun offenbar ähnliches widerfährt, ruft leidlich verschüttete Traumata wach.

Und es legt die Abgründe einer Dorfgemeinschaft frei, in der alle Beteiligten irgendwelche Dämonen mit sich herumschleppen. Alle. Also auch Lejlas Freundin Luise, die sich nur scheinbar selbst die Pulsadern aufgeschnitten hat und damit zum Ausgangspunkt dieses düsteren Thrillers wird. Wie üblich im Genre, scheint überm Tatort eigentlich nie die Sonne, dafür liegt überall schäbiger Schnee.

Gelächelt wird selten, gelacht praktisch nie. Und falls doch, dann bitter bis böse. In dieser Umgebung reicht es Verbrechern, meistens Männern, eigentlich nie, Menschen bloß zu töten; sie müssen zuvor zeremoniell gequält werden. Lejlas erwachsene Gegenwart ist nur deshalb ansatzweise erträglich, weil ihr Flashbacks und Alpträume permanent zeigen, wie viel fürchterlicher die kindliche Vergangenheit war.

Dennoch beschreitet “Die Glaskuppel” ihre ganz eigenen Wege des (Er-)Schreckens. Denn was könnte schlimmer sein, als Häftlinge mit klarer Sicht auf die Freiheit zu foltern? Wie bereits in der CBS-Serie “Under the Dome” oder im Kinofilm “Die Wand” mit Martina Gedeck im Waldgefängnis dient auch diese Glaskuppel dazu, Gefangenschaft grenzenlos und damit umso psychotischer zu inszenieren. Und diese Gefangenschaft bringt Hauptdarstellerin Leonie Vincent mit zurückhaltender Intensität fabelhaft auf den Punkt.

Wie sie sich mit stoischer Miene aus einer entsetzlichen Gegenwart in die Hölle ihrer Jugend durchwühlt – das allein macht die Serie von der ersten bis zur letzten Folge über volle 270 Minuten vielleicht nicht einzigartig, aber außergewöhnlich genug. Dass die deutsche Synchronisation auf fast schon niederträchtige Art sexistisch ist und das Ende etwas zu melodramatisch – einerlei. “Die Glaskuppel” zeigt, was Skandi Noir auch in der 649. Film- und Fernsehversion zu leisten vermag: fesselnde Thriller-Unterhaltung an Orten, wo man als Zuschauer zugleich Urlaub machen und die Flucht ergreifen möchte.