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Narzisstische Königsfigur und brutaler Machtmensch

Ein charismatischer Führer, ein begabter Prediger, eine warmherzige Vaterfigur. Aber auch jemand, der „launisch, jähzornig, rabiat, autoritär und unbeherrscht“ war, vermutlich auch abhängig von Aufputschmitteln und Alkohol, ziemlich sicher ein Narzisst. Der Mitgründer und erste Prior (1961-1996) der evangelischen Kommunität der Christusträger Bruderschaft, Otto Friedrich (✝2018), war wahrscheinlich all das. Vor allem aber war er ein Sexualstraftäter, der sich über Jahrzehnte an seinen Mitbrüdern vergangen hat. Nach mehr als 25 Jahre Schweigen hat die Kommunität das alles am Donnerstag nun öffentlich gemacht.

Der 99-seitige Bericht der sogenannten Spurgruppe hat es in sich. Zwischen der Gründung der Kommunität Anfang der 1960er-Jahre bis zur Absetzung von Otto Friedrich als Prior und dessen Ausscheiden im Jahr 1996 soll dieser mindestens acht Brüder schwer sexuell und geistlich missbraucht haben. Man könne das, was geschehen sei, „nur als ‘Missbrauchssystem’ verstehen“, heißt es im am Donnerstag im Netz veröffentlichten Bericht der unabhängigen, vierköpfigen Spurgruppe. An mindestens acht Mitbrüdern hat er sich vergangen, einer war zum Tatzeitpunkt noch minderjährig. In einigen Fällen ging es wohl auch um Vergewaltigung.

Das unabhängige Experten-Quartett hat in den vergangenen Wochen und Monaten Unterlagen gesichtet und Gespräche mit aktuellen und ehemaligen Christusträgern geführt. Die ehemalige Richterin Christa Dreiseitel, die Psychotherapeuten Ilse Hellmann und Sebastian Küffner sowie der frühere Leipziger Superintendent Martin Henker hatten 29 ausgetretene und 22 aktuelle Brüder zu Gesprächen über Erlebnisse und Erfahrungen in der Bruderschaft eingeladen. Mit 13 von ihnen wurden Gespräche geführt, zwei reagierten schriftlich, drei gaben an, keinen Gesprächsbedarf zu haben, die anderen antworteten auf die Anfrage offenbar gar nicht.

In dem Bericht wird geschildert, wie sich Otto Friedrich eine „Kommando-Struktur“ mit straffer Hierarchie geschaffen und sich selbst zur „Königsfigur“ gemacht hat. Es gab ein absolutes Machtgefälle, das etwa durch sein „Seelsorgeprivileg“ oder auch der gewollten Vereinzelung der Mitglieder zementiert wurde: Nur Friedrich durfte innerhalb der Bruderschaft Seelsorge leisten, persönliche Gespräche unter den Brüdern waren tabu. Die Kommunität verstand sich als Elite, die Zugehörigkeit wurde als Privileg verstanden, Friedrich zudem geistlich überhöht. Es bestand die „nicht hinterfragte Überzeugung, dass durch Otto Friedrich Gott spreche“.

Spätestens seit einem Knall auf Fall über Nacht erfolgten Austritts eines Bruders im Jahr 1995 waren den damals leitenden Brüdern die Vorwürfe gegen Otto Friedrich bekannt. Und spätestens nach seiner Absetzung als Prior und seinem Austritt aus der Bruderschaft im Jahr 1996 waren die Missbrauchstaten innerhalb der Gemeinschaft ein „offenes Geheimnis“. Daran übt die Spurgruppe in ihrem Bericht scharfe Kritik. Dies könne „in der Perspektive der Opfer nur als Verweigerung der Aufarbeitung des Geschehens“ gesehen werden. Bei einer schnelleren Reaktion hätte auch die Chance einer strafrechtlichen Verfolgung Friedrichs bestanden.

Die Christusträger tun sich selbst intern schwer, in den Folgejahren über das Thema zu sprechen. Das System Otto Friedrich habe „schwere Defizite in der Fähigkeit zur Kommunikation hinterlassen“, urteilt die Spurgruppe. Dieser Tatsache ist es mit geschuldet, dass es zu weiteren Missbrauchstaten kommt. Drei Brüder, die teils selbst Missbrauchs-Betroffene von Friedrich waren, werden zu Tätern. Zu schwerem Missbrauch kommt es offenbar nicht, aber zu Übergriffen und Grenzverletzungen, letztmals 2019. Alle drei gehören der Bruderschaft nicht mehr an, es gab Anzeigen und Selbstanzeigen, die Ermittlungen wurden alle ergebnislos eingestellt.

Die Christusträger Bruderschaft hat ihren Hauptsitz erst seit 1986 im ehemaligen Augustiner Chorherren-Kloster im unterfränkischen Triefenstein. Daher haben sich viele der Missbrauchstaten Friedrichs im südlichen Hessen zugetragen – und an vielen anderen Orten, an denen die Christusträger Niederlassungen haben oder in sozialen Projekten engagiert sind. Entstanden ist die Kommunität zu Beginn der 1960er-Jahre als eine Art christliche Erweckungskommune, rund um eine Guru-ähnliche Figur. Die Christusträger gelten, nicht zuletzt auch wegen ihrer christlichen Pop- und Rockmusik, als Stars der christlich-freikirchlichen Jugendszene.

Die Christusträger, die bis heute weltweit wichtige soziale Projekte betreiben, zeigten sich in einem ebenfalls am Donnerstag veröffentlichten Brief an Freunde und Weggefährten erschüttert. Die Spurgruppe habe den Brüdern im August ihre Ergebnisse vorgestellt. „Die Fakten, die dieser Bericht zusammenträgt, sind für uns Brüder kaum zu ertragen“, schreibt die Leitung der Gemeinschaft. „Wir haben uns sehr geschämt für das, was unter uns geschehen ist“, versuchen sie zu erklären, weshalb mehr als ein Vierteljahrhundert seit dem internen Bekanntwerden des Missbrauchs nahezu tatenlos verstrichen ist: „Heute wissen wir, das war ein Fehler.“

Mit der Veröffentlichung des Berichts wollen es die Brüder aber nicht bewenden lassen. Unter anderem will die Kommunität einen „Healing of memories“-Prozess anstoßen. Orientiert an Vorbildern aus Südafrika nach dem Ende des dortigen Apartheitssystems wolle man darin „angesichts von Verletzungen Schritte zur Versöhnung und Heilung“ suchen. (00/3213/05.10.2023)