Predigttext
12 So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; 13 und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! 14 Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. (…) 16 Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. 17 Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.
Mit Schwung trägt Paulus seinen Lesern in Kolossai vor, was er von ihnen erwartet. Er entwirft das Bild einer Gemeinde, die an Tod und Auferstehung Jesu uneingeschränkt Anteil hat und sich nicht mehr im Wartestand der noch Unerlösten befindet. Er schreibt an die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, die durch und in Christus neue Menschen geworden sind.
Nicht nur singen; auch tun!
Der Apostel formuliert einen ganzen Katalog an Ansprüchen, gemäß dem sich seine Adressaten am Vorbild Christi in ihrem täglichen Handeln orientieren sollen. Wenn ich als Musiker diese Aufzählung lese, dann stoße ich sofort auf die Aufforderung zum Lob Gottes, die ich in meiner Ausbildung als eine der Kernstellen für die Rolle der Musik in der christlichen Kirche kennengelernt habe: „Mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.“ Dies isoliert so stehen zu lassen, hätte für mich den großen Reiz der Bequemlichkeit, aber Paulus überschüttet den Leser mit weiteren Aufforderungen; er erwartet herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld, gegenseitige Vergebung, das Regieren des Friedens Christi in den Herzen, reichlichen Raum für das Wort Christi, gegenseitige Lehre und Ermahnung in Weisheit, all’ dies zusammengefasst durch die Liebe, das Band der Vollkommenheit, und all’ dies gepriesen in Dankbarkeit gegenüber Gott durch Gesang und Gebet.
Wohl eher als Überforderung denn als Erlösung kommt mir dies vor. Wer wäre schon immer sanft und geduldig oder gar demütig? Gerade die Demut mag als unehrliches Sich-Wegducken vor dem verstanden werden, was wir als stärker empfinden, als wir selbst sind. Aber Demut könnte wohl eher bedeuten, sich die eigene Eingeschränktheit einzugestehen und zu akzeptieren, dass Gottes Walten höher ist als unser Verstehen.
Paulus verwendet ein sehr schönes Bild für das gelebte Christsein: Der neue Mensch soll die von ihm verlangten Vorzüge und Verhaltensweisen anziehen wie ein neues Gewand. Als Auserwählter Gottes, als Heiliger und von Gott Geliebter soll er dies tun. Sich von Gott geliebt zu wissen, gibt den Menschen die Kraft, diese Liebe auch untereinander zu üben und sich in dem zu vervollkommnen, was Paulus als als Katalog der moralisch guten Verhaltensweisen hier aufstellt.
Die Liebe, das Band der Vollkommenheit, fasst die Liste des Paulus in einem Begriff zusammen und ist das Kraftreservoir, das die Verwirklichung des von ihm formulierten Anspruchs ermöglicht.
Sie ist auch die Voraussetzung dafür, dass das Wort Christi unter den Menschen heimisch wird und dass darüber gesprochen und debattiert wird, wie hier in „Unsere Kirche“ und in unserer Kirche. In Weisheit, gegenseitiger Ermahnung, Freundlichkeit, Sanftmut und Geduld, wie wir hoffen wollen und worum wir uns alle bemühen, modern ausgedrückt also: im toleranten theologischen Austausch.
Musik als Reden mit Gott
Dafür, dass dies durch und in Christus geschehen kann, gebührt Gott Dankbarkeit, die sich auch in Musik äußert, damals wie heute. Vom Singen spricht Paulus, nicht ahnend, dass aus diesem Ursprung einmal auch Orgelmusik, Kantaten, Oratorien, Jazz, Rock und Pop werden würden, jedes davon Musik, jedes davon auf seine Weise ein Mittel zum Lob Gottes. Und in unseren Herzen sollen wir singen, nicht nur um äußerer Virtuosität willen; der Musiker soll sich nicht in der Kirche bloß selbst verwirklichen, womöglich nur um des Applauses willen; vielmehr ist sein Tun dort Teil des Gottesdienstes, des Redens mit Gott: In Gesang und Gebet (vergleiche Kolosser 4,2) können wir Gott unseren Dank erweisen.