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“Murer” – Spannendes Gerichtsdrama über einen Nazi-Verbrecher

Franz Murer war im Ghetto in Vilnius für die Vernichtung der Bewohner verantwortlich. 1963 wurde er vor Gericht freigesprochen. Der Film von 2018 über diese Geschichte sorgte in Österreich für ein Beben.

In Zusammenarbeit mit filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission gibt die KNA Tipps zu besonderen TV-Filmen:

Im Frühjahr 1963 steht in Graz der angesehene ÖVP-Lokalpolitiker und Großbauer Franz Murer (Karl Fischer) vor Gericht. Der ehemalige SA-Führer war als Leiter des Ghettos von Vilnius in den Jahren 1941 bis 1943 für die Vernichtung der Bewohner verantwortlich; von 80.000 Bewohnern überlebten nur 6000 Menschen. Nach Kriegsende wurde Murer in der Sowjetunion wegen Mordes verurteilt, nach fünf Jahren aber nach Österreich abgeschoben. Erst Simon Wiesenthal (Karl Markovics) kam dem “Schlächter von Vilnius” auf die Spur.

Doch vor Gericht tritt der Kriegsverbrecher als harmloser steirischer Bauernsohn im Trachtenjanker auf, als treu sorgender Familienvater und unbescholtener Spätheimkehrer. Im Brustton der Überzeugung verkündet Murer: “Nicht schuldig in allen Anklagepunkten”. Die unzähligen Zeuginnen und Zeugen, darunter vor allem Überlebende der Shoah, reichen nicht aus, um ihn zu verurteilen. Politik und Gesellschaft im Österreich der Nachkriegszeit wollen endlich einen Schlussstrich unter die Nazi-Vergangenheit ziehen. Murer wurde freigesprochen, seine Verbrechen bleiben ungesühnt. Er starb 1994, kurz vor seinem 82. Geburtstag.

Das Gerichtsdrama von Christian Frosch rollt einen der größten Justizskandale der Zweiten österreichischen Republik auf der Basis der Gerichtsprotokolle auf. Mit dem bereits im Titel angedeuteten anatomischen Blick nähert sich der Film den Protagonisten: dem Angeklagten, dem juristischen Personal, dem Publikum im Saal des Gerichts in Graz. Auf der Suche nach der Wahrheit werden die Akteure aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet, mal theaterhaft distanziert, dann wieder schmerzhaft nahe in Szenen, die unter die Haut gehen.

In sich allmählich verdichtenden Fragmenten blättert der Film die Hintergründe auf, bleibt aber nicht bei der Rekonstruktion der Ungeheuerlichkeiten stehen, sondern seziert das skandalöse Gerichtsurteil als Resultat der Staatsräson, mit dem sich Österreich auf die Seite der historischen Opfer mogelte.

Die Präzision, mit der der Film diese Strategie herausarbeitet, unterstreicht seine politische Bedeutung und zielt auf die unmittelbare Gegenwart. –

1963 wurde in Graz ein Schwurgerichtsprozess eröffnet, der mit einem Freispruch endete. Der Angeklagte Franz Murer, geboren 1912, war als “Referent für jüdische Fragen” zwischen 1941 und 1943 für das Ghetto in Vilnius zuständig gewesen. In dieser Zeit wurde der Anteil der jüdischen Bevölkerung im einstigen “Jerusalem des Nordens” von 80.000 auf 600 Menschen dezimiert. Dokumente und Augenzeugen benannten Murer nicht nur als Verantwortlichen für Deportation und Massenerschießungen, sondern auch als Täter, der eigenhändig eine Vielzahl von Wehrlosen ermordet hatte. Sein Sadismus brachte ihm den Namen “Schlächter von Wilna” ein.

1948 wurde er von Österreich an die Sowjetunion ausgeliefert, wo er nach einem ersten Kriegsverbrecher-Prozess zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde. Infolge des “Österreichischen Staatsvertrags”, der den Status der Republik im Verhältnis zu den Siegermächten regulierte, konnte Murer 1955 in seine Heimat zurückkehren. Nach dem Freispruch 1963 lebte er bis zu seinem Tod 1994 als geehrter Mitbürger und ÖVP-Lokalpolitiker im idyllischen Gaishorn am See.

Regisseur Christian Frosch blättert in “Murer – Anatomie eines Prozesses” diese historischen Hintergründe auf. Es geht ihm dabei nicht primär um die Rekonstruktion des beschämenden Prozesses. Das im Untertitel als “Anatomie” bezeichnete Verfahren des Regisseurs legt vielmehr das Zusammenspiel ineinandergreifender Energien bloß, die zu dem massenmörderischen Treiben geführt haben. Der Film beschreibt Intrigen, individuelle und gruppendynamische Motivationen. Schnell zeigt sich, dass Grenzziehungen keineswegs so klar verlaufen, wie zunächst anzunehmen wäre.

Inmitten der Aktivitäten von Unterstützern und Gegnern Murers steht das Gericht selbst. In diesem Zentrum löst sich jedoch das Neutralitätsgebot auf. Über den Richter wird bekannt, dass er als aktives NSDAP-Mitglied noch bis 1945 Deserteure zum Tode verurteilt hat. Der Staatsanwalt steht unter massivem politischen Druck. Und manche Geschworene stellen sich als handverlesene Marionetten heraus. Der Prozess erweist sich zuletzt als eine Maßnahme der Staatsräson. Der raffiniert eingefädelte Freispruch trägt zum sehr speziellen “Nation Building” bei, das Österreich auf die Seite der historischen Opfer stellte. Dafür wurden die eigentlichen Opfer verraten.

Mit welcher Präzision der Film diese Strategien herausarbeitet, macht ihn zu einem hochpolitischen Akt. Denn diese Weichenstellung der Viktimisierung führt zu bis heute virulenten Folgen. Anders als bei anderen Gerichtsdramen geht es nur am Rande um die Entscheidungsfindung innerhalb eines juristischen Laiengremiums. Die Grazer Geschworenen werden zwar immer mal wieder ins Zentrum gerückt, geraten zwischendurch aber auch völlig in den Hintergrund. Am Schluss erweist sich ihre vorgebliche Unabhängigkeit endgültig als Farce. Anfangs starke Figuren werden im Lauf des Films schwach, Integre korrupt – und umgekehrt. Nur der Angeklagte bleibt mit seinen emotionalen und moralischen Leerstellen stabil.

In einem Statement erklärte der Regisseur: “Österreich hat keine Seele und keinen Charakter. Österreich besteht aus Tätern, Zuschauern und Opfern.” Das klingt harsch, schlägt aber offenbar zur rechten Zeit die notwendigen Töne an. Als “Murer” im Frühjahr zur Eröffnung der “Diagonale” in Graz – also am Ort des historischen Geschehens – gezeigt wurde, ging ein Beben durch den Kinosaal.