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Mitten im Münchner Trubel haben Ehrenamtliche ein offenes Ohr

Keine Likes oder Kommentare – nur echtes Zuhören. Im Münchner Zuhörraum zählt, was Menschen wirklich bewegt. Das offene Gespräch hilft vielen dabei, selbst mehr Klarheit zu finden.

Ein kleines grünes Holzhaus mitten im Münchner Glockenbachviertel. Eine Rampe führt ins Innere, wo sich eine Theke und im hinteren Teil eine halbkreisförmig umlaufende Sitzbank befindet: Der Zuhörraum am Stephansplatz gleicht einem geschlossenen Pavillon mit angenehmer Atmosphäre. “Jeder kann hier vorbeikommen und erzählen, was er auf dem Herzen hat”, berichtet Beate Strobel, eine der etwa vierzig ehrenamtlichen Zuhörer, die Passanten dort ihre Zeit und ein offenes Ohr schenken.

Immer wieder ist Strobel erstaunt, welche Bandbreite an Geschichten ihr in dem kleinen Raum anvertraut wird. Denn es seien keineswegs nur alte, einsame Menschen, die bei einem Gratis-Kaffee ins Reden kommen. Ein Jugendlicher habe beispielsweise über das Mobbing an seiner Schule geklagt. Eine ältere Frau habe das kostenfreie Angebot genutzt, um freudestrahlend zu verkünden, dass sie gerade zum ersten Mal Oma wurde. Und eine Berufsanfängerin habe sich nicht zwischen drei Jobangeboten entscheiden können, die ihr gleichermaßen traumhaft erschienen. “Während sie mir die Arbeitsstellen beschrieben hat, ist ihr selbst zunehmend klar geworden, welche ihr am meisten zusagen dürfte”, erinnert sich Strobel.

Beziehungsprobleme, Todesfälle und Zukunftsängste, kleine Missgeschicke und große Glücksgefühle – alles kann man sich im Zuhörraum anonym und unter dem Siegel der Verschwiegenheit von der Seele reden. “Wir lauschen, halten Blickkontakt und lassen auch die Gesprächspausen wirken, die das Gegenüber macht”, erläutert Strobel. “Was wir bewusst nicht wollen: das Gesagte bewerten, eigene Erfahrungen mitteilen oder Ratschläge erteilen.”

Denn, so ein Grundsatz des bewertungsfreien und wertschätzenden Zuhörens: Die Antwort auf so manche Frage tragen Betroffene bereits in sich; unbeeinflusst von der Meinung anderer kann er oder sie diese beim freien Erzählen finden. “Und Ratschläge – seien sie auch noch so gut gemeint – haben doch immer etwas Besserwisserisches an sich”, sagt Strobel. Nur, wenn Suizidgedanken oder geplante Straftaten zur Sprache kommen, müssen die geschulten Zuhörer Einfluss nehmen.

Für die jüngere, von Social Media geprägte Generation ist diese Art der Kommunikation eine ungewohnte Erfahrung, hat Strobel beobachtet. Schließlich werde bei Instagram & Co. jede Aussage sogleich mit “Like” oder “Dislike” bewertet. Laut auszusprechen, was man auf dem Herzen hat, befreie und verändere – Junge wie Alte gleichermaßen.

“Viele, die mit finsterem Gesicht und in gebeugter Haltung hereingekommen sind, verlassen den Raum lächelnd und aufrecht”, freut sich die Fachfrau, die das bewertungsfreie und wertschätzende Zuhören in regelmäßigen Online-Schulungen trainiert. Aufgrund der Anonymität könne manch einer authentischer sprechen als im Freundes- oder Verwandtenkreis. “Als Außenstehende bin ich ja nicht direkt involviert im Leben des Erzählenden – anders als etwa der Lebenspartner oder die beste Freundin”, ergänzt Strobel.

Ins Leben gerufen wurde der Zuhörraum von Michael Spitzenberger. Der Münchner wollte, unter anderem inspiriert vom Hamburger Zuhör-Kiosk, in seiner Heimatstadt einen Ort für Gespräche und Begegnungen schaffen. Deshalb stellte er zunächst im Englischen Garten zwei Stühle auf und ein Schild mit der Aufschrift: “Ich höre zu”. Einen geschützten Raum bot schon bald der grüne Pavillon, der von Architekturstudenten der Technischen Universität speziell für diesen Zweck entworfen wurde.

Nach mehreren Ortswechseln fand der Zuhörraum im Oktober 2023 im Schatten der Münchner Stephanskirche einen festen Standort. Träger ist der gemeinnützige Verein “Momo hört zu”, der sich aus Spenden, Sponsoring und Fördergeldern finanziert und dessen Vorsitz Spitzenberger innehat.

Nach zwei Jahren des ehrenamtlichen Zuhörens ist Beate Strobel überzeugt: Das Konzept hat sich bewährt. “Wenn man ein Problem hat, sind Freunde und Verwandte oft ein Teil davon; das Gespräch mit einem Unbekannten bietet neue, ungeahnte Chancen”, erklärt sie. Auch wenn Zuhörräume keinen Ersatz für Therapie oder psychosoziale Dienste darstellten, könnten sie die Menschen daher seelisch entlasten.