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Mehr weglassen als tun

Zeitforscher schreiben Buch für „Uhrzeitmenschen“

alphaspirit - Fotolia

Jeder hat gleich viel von ihr, aber jeder empfindet und nutzt sie anders – die Zeit. Dem einen läuft sie davon, der andere will sie totschlagen. Für den Urlaub gilt: Endlich einmal Zeit haben, auszuschlafen, in den Tag hineinzuleben, mal nicht auf die Uhr schauen zu müssen. Was so selbstverständlich erscheint, fällt vielen Menschen schwer. Der richtige Umgang mit der Zeit will offenbar nicht nur in den Ferien gelernt sein – nicht um den Tag noch optimaler zu nutzen, sondern um das Leben zu genießen. „Wir haben nicht zu wenig Zeit, wir haben zu viel zu tun“, schreiben der Zeitforscher Karlheinz Geißler und sein Sohn, der Zeitberater Jonas Geißler, in ihrem Buch „Time is honey“, das unseren Umgang mit dem Phänomen beleuchtet.

Übervoller Termin­kalender wird beklagt

Zeitnot, Stress und übervolle Terminkalender – fast jeder klagt über sie und wünscht sich, mehr Zeit zu haben. Die beruhigende und augenzwinkernde Botschaft der Autoren: Es ist genug Zeit da – und morgen gibt es auch wieder welche. Dennoch scheint sie den Menschen durch die Finger zu rinnen. Ein großer Irrtum besteht für die Autoren in dem Glauben, „mittels Beschleunigung und Zeitverdichtung mehr Leben ins Leben bringen zu können“. Denn wer sich von der Terminfülle hetzen lässt, eilt auch „an den schönen und angenehmen Zeiten und Erfahrungen des Lebens vorüber“.
Gerade im Arbeitsleben gibt die Uhr den Takt vor und erweist sich als gnadenloser Antreiber. Dabei gefährde gerade „das maß- und endlose Machen, das hektische Tun, das Immerzu-auf-dem-Sprung-Sein und das ‚Nie-genug-Haben‘“ den Wohlstand der Gesellschaft und der Arbeitnehmer. Die beiden Zeitexperten plädieren für einen anderen Weg: die Zeit aus ihrem Diktat durch die Uhr und „ihrer Umklammerung durch das Geld zu befreien und ihr ihre honigsüßen Qualitäten wiederzugeben“. Zeit kann demnach nicht gemanagt, nur gelebt werden.
Bewusst sind die Geißlers mit  Ratschlägen zur Zeitoptimierung sehr zurückhaltend. Vielmehr möchten sie einen „Weg zu besseren Zeiten“ aufzeigen, „die es nicht notwendig machen, in den Urlaub zu flüchten, um die Zeit leben, lieben und genießen zu können“. Denn zeitliches Wohlergehen und Zeitzufriedenheit lassen sich auch und gerade im Alltag gewinnen.
Der erste Schritt ist der bewusste „Abstand zur Uhr und deren diktatorischen Zeitzeichen“. Denn von ihren begradigten, inhaltsleeren, „farblosen und zählbaren Zeiteinheiten“ gehen keine Überraschungen aus. Die meisten Menschen verwechselten die Uhr mit der Zeit. Die „tote, standardisierte, genaue“ Uhrzeit der mechanischen Uhr takte den Tag durch; diese Zeit fließe nicht, sondern rücke nur mechanisch voran. Anders die „Naturzeit“, die dem Tag Breite, Intensität und ein Gefühl des Erlebens gibt.
Die Autoren plädieren deshalb für Zeitvielfalt – Schnelligkeit wie Langsamkeit, Hektik wie Trödeln, unermüdliches Ranklotzen wie Pausen und Zeiten der Erholung und Langeweile. Gerade Wartezeiten, Lücken und Muße seien in Gefahr, „unter die Räder der Beschleunigung zu geraten“. Dabei versteckt sich in solchen „Zwischenreichen“ wertvolle Zeit: Pausen verstehen die Geißlers als Zeiträume des Nach- und Vorausdenkens, Spielräume der Phantasie, der Tagträumerei sowie des Ab- und Umschaltens. Besonders in solchen Frei-Zeiten könnten „Sinne und Gedanken Auslauf haben“.
Auch Muße stelle sich nur jenseits des Terminkalenders ein, „jenseits der Deadlines und des routinierten Blickes auf die Uhr“. Vor wichtigen Entscheidungen kann ein Innehalten helfen, wie es das in der jesuitischen Tradition des einstündigen Silentiums gibt – „eine Chance, dem Heiligen Geist eine Möglichkeit zu geben, die Ent-scheidung mitzubeeinflussen“.
Um das eigene Verhältnis zur Zeit kennenzulernen, schließen sich an jedes Kapitel Tipps und Übungen zum „klugen Umgang mit der Zeit“ – so der Untertitel des Buches – an. Etwa der, im Urlaub oder an freien Tagen „uhrzeitfreie Zeitoasen“ zu schaffen. Oder der Rat, wieder auf natürliche Rhythmen zu achten, sei es in der Natur oder im Kirchenjahr. Dabei werden die Autoren auch ganz konkret: Zahnarzttermine sollten besser auf den Nachmittag gelegt werden, Diäten besser ins Frühjahr oder in den Sommer. Ein weiterer Tipp: weniger Termine – sie „zerhacken das Leben“ – mehr Verabredungen. Eine sympathische Frage: Warum statt einer „to-do-Liste“ nicht eine „Let-it-be-Liste“ anfertigen? Schließlich sei Muße vor allem eine Frage des (Weg-)Lassens, nicht des Tuns.

Ranklotzen und Rumhängen

Den Autoren ist eine vergnügliche wie intelligente Auseinandersetzung mit dem schwer fassbaren Phänomen Zeit und eine treffende Gesellschaftsanalyse gelungen. Viele Sätze überraschen und regen zum Nachdenken an. Manche Gedanken wie „Nicht die Zeit vergeht, wir sind es, die vergehen“ oder auch „Das Warten ist nicht die Hölle. Die Hölle ist ein Leben, das kein Warten kennt“ könnten den Weg in eine Aphorismensammlung finden. KNA

Karlheinz A. Geißler, Jonas Geißler: „Time is honey. Vom klugen Umgang mit der Zeit“. oekom, München 2015, 253 Seiten, 17,95 Euro.