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Mediziner fordert spezialisierte Angebote nach Missbrauchsfällen

Statistisch kennt jeder eine Person mit Missbrauchserfahrung. Doch die große Zahl der Betroffenen werde verdrängt, kritisiert ein Experte. Er erklärt auch, wie die Kirche das verändern könnte.

Mehr Nachsorge, mehr spezialisierte Angebote: Der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert wirbt für konkrete Verbesserungen im Umgang mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt. “Die katholische Kirche war, unter Druck stehend, Vorreiterin in Deutschland”, sagte Fegert in einem am Donnerstag veröffentlichten Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Hochwirksam könnten beispielsweise mehrtägige Therapieangebote für Menschen sein, “denen seit Jahren nichts hilft”.

Zudem spalte es Vereine und Gemeinden, wenn die Reaktionen auf einen Missbrauchsfall stark voneinander abwichen. Während die einen sich fragten, ob sie einen Übergriff hätten verhindern können, wiegelten andere ab: “Ach, unser Pfarrer war doch der Beste”, erklärte der Experte. In dieser Situationen fühlten sich viele alleingelassen.

Grundsätzlich gelte es, “von gut gemeinter Faltblatt-Prävention” wegzukommen, mahnte Fegert, der Mitglied ist sowohl im Fachbeirat der Unabhängigen Beauftragen zu Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, sowie im Lenkungsgremium des Center for Child Protection der päpstlichen Universität Gregoriana. Schutzkonzepte müssten angepasst werden und etwa in Kinderheimen anders aussehen als bei Großevents oder bei Jugendfreizeiten.

Bei Missbrauchsfällen gehe es stets um Machtverhältnisse, fügte der Mediziner hinzu. Je nach Zusammenhang – in der Kirche, in der Medizin oder an Schulen – nutzten Täter unterschiedliche Strategien. “Wer ein geistliches Führungsverhältnis nutzt oder gar die Beichte, den sakramentalen Bereich, der handelt perfide. Auf ähnliche Weise missbraucht ein Arzt seine institutionelle Macht, wenn er unnötige Untersuchungen vorschiebt.”

Diese Dynamik sei noch nicht ausreichend im Bewusstsein verankert: “Gesellschaft und Politik reagieren auf den jeweiligen Skandal”, kritisierte Fegert. “Der eigentliche Skandal ist für mich die Zahl von 12,3 Prozent Betroffenen in der Allgemeinbevölkerung.” Diese Zahl bedeute, dass rein rechnerisch jede und jeder in Deutschland mindestens eine Person mit Missbrauchserfahrung kenne. “Darüber spricht man aber nicht – man versucht, das Thema zu verdrängen. Aber eine Dämonisierung hilft nicht weiter.”