Artikel teilen:

“Mannheim steht still” – Der Tag nach der Todesfahrt

Es ist der Tag danach in Mannheim: Am Montag war ein Autofahrer “mit irrer Geschwindigkeit” – so die Ermittler – in eine Gruppe von Menschen in der Fußgängerzone gefahren. Dort, wo Menschen starben, herrscht Fassungslosigkeit.

Marie sitzt am Brunnen auf dem Mannheimer Paradeplatz mit der Grupello-Pyramide in der Mitte, sie hat mehrere rote Kerzen mitgebracht, ihr rosafarbenes Feuerzeug trägt kleine Herzchen. Die 20-Jährige ist wie viele andere Menschen an diesem Dienstagmorgen an den Ort zurückgekehrt, der am Rosenmontag weltweit für Schlagzeilen sorgte. Weil hier ein Mann mit “irrer Geschwindigkeit”, wie das Landeskriminalamt Baden-Württemberg am Vorabend auf einer Pressekonferenz erklärte, entlanggerast und Menschen überfahren hat.

“Sinnlos”, sagt Marie. Die zwei Menschen hätten nicht sterben müssen, und die anderen Menschen müssten nicht verletzt im Krankenhaus liegen. Sie könne sich nicht vorstellen, wie jemand auf die Idee komme, einfach so zu töten. “Das geht mir nicht aus dem Kopf.”

Marie stammt aus dem Saarland, im März vergangenen Jahres ist sie nach Mannheim gezogen, um Soziale Arbeit zu studieren. Zwei Monate später, im Mai 2024, sticht ein Mann, ein Afghane, der seit Jahren in Deutschland lebte, Menschen nieder, ein junger Polizist stirbt. Der Tatort: der Mannheimer Marktplatz, nur wenige hundert Meter vom Paradeplatz entfernt. “Und jetzt schon wieder”, sagt Marie. Schon wieder Tote, schon wieder Mannheim, schon wieder Fassungslosigkeit.

Schlagartig sei ihr am Morgen, als sie den Paradeplatz überquerte, klar geworden, dass es genauso gut sie hätte treffen können. Oder ihren Freund. Oder ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen. Freunde aus Polen, Bulgarien, den USA hätten sie gestern Nachmittag angerufen: “Alles gut bei dir?”

Doch gut ist an diesem Dienstagmorgen in Mannheim nichts. Die Polizei hat die rot-weißen Absperrbänder, die den Innenstadtbereich nach der Tat in eine No-Go-Zone verwandelt hatten, entfernt, die Straßenbahnen fahren wieder, die Sonne scheint. Doch die großen Geschäfte sind zu, der Fasnachtsmarkt, der traditionell am Dienstag nach Rosenmontag in der Stadt stattfindet, ist abgesagt.

“Mannheim steht still. Fassungslos und tief betroffen blicken wir auf die schreckliche Tat, die unsere Stadt erschüttert hat”, steht auf einem Schild, das das Modekaufhaus Engelhorn an seine Türen geheftet hat. Aus Respekt und Anteilnahme blieben heute die Geschäfte geschlossen.

Gegenüber vom Wasserturm, dem Wahrzeichen der Stadt, dort, wo der mutmaßliche Amokfahrer seinen Kleinwagen auf die Haupteinkaufsstraße “Planken” lenkte, bietet die Notfallseelsorge Mannheim an einem improvisierten Stand die Möglichkeit zu Gesprächen an.

Die Helferinnen und Helfer berichten, es seien schon eine Reihe von Menschen gekommen, darunter Augenzeugen, die wollten wissen: “Was können wir jetzt tun?” Nicht viel, laute die Antwort dann, nicht allein sein, über das Erlebte reden oder nicht reden, zu Hause bleiben oder rausgehen. Die Verarbeitung eines solchen Ereignisses sei individuell und brauche viel Zeit, Kraft und die Erkenntnis: “Es lässt sich nicht mehr rückgängig machen.”

Andreas Schmitt ist jeden Tag in Mannheims Innenstadt unterwegs. Er trifft sich mit potenziellen Kunden zu Gesprächen in einem Cafe, läuft seine 7.500 Schritte. “Das verlängert das Leben um zehn Jahre”, sagt der 54-Jährige. Er steht in der Fußgängerzone an der Stelle, wo eines der Opfer der Amokfahrt starb. “Der Mann war so alt wie ich, 53 Jahre”, sagt Andreas Schmitt.

Menschen haben Rosen niedergelegt, Kerzen brennen. “Hier wurde Albert umgebracht. Einfach unfassbar! Immer gut gelaunt, immer hilfsbereit! Danke für Deine Freundschaft seit der Schulzeit!”, hat jemand auf ein Blatt Papier geschrieben und mit “Dein Freund Christoph” unterschrieben.

Andreas Schmitt sagt, die Tat habe ihn mitgenommen, doch er sagt auch, dass er nichts davon halte, sich jetzt zu verkriechen. “Man muss positiv denken, sonst wird man ja verrückt.” Er wolle das Geschehen nicht verdrängen und die Toten nicht vergessen. “Aber das Leben muss weitergehen.”