Rainer Erlinger befasst sich schon lange mit Fragen der alltäglichen Moral. Einer breiten Öffentlichkeit ist der Mediziner und Jurist durch seine Kolumne „Gewissensfrage“ im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ bekannt. Wer das 2018 eingestellte Format vermisst, dürfte sich über das jetzt erschienene Buch des Autors freuen. „Warum die Wahrheit sagen?“ heißt es und passt zum Thema der diesjährigen evangelischen Fastenaktion: „Mal ehrlich! Sieben Wochen ohne Lügen“. Im Interview mit Paula Konersmann spricht Erlinger über Vertrauen, „Fake News“ und das mühsame Ringen um Wahrhaftigkeit.
• Herr Erlinger, wie ist die Idee zu Ihrem Buch entstanden?
Die Frage nach Wahrheit und Lüge beschäftigt mich schon lange – sie zieht sich durch die Beschäftigung mit der Alltagsmoral. Wer die Nachrichten verfolgt, bemerkt, dass die Frage nach der Wahrheit eine ungeahnte neue Konjunktur erlebt. In der Politik gibt es auf einmal Streit darüber, ob man Fakten braucht und was Fakten eigentlich sind, die Rede ist von der postfaktischen Gesellschaft. Es geht also weniger um die Frage, wann man ausnahmsweise einmal lügen darf, sondern um diese gesellschaftspolitische Ebene.
• Wird heute mehr gelogen als vor zehn oder 20 Jahren?
Das müsste man untersuchen. Neu ist jedenfalls eine Verachtung von Wahrheit und Fakten – von dem, was sich prüfen und bestätigen lässt. Manche populistischen Politiker argumentieren, dass Fakten nicht so interessant seien wie das, was die Menschen fühlen. Dadurch bilden Fakten nicht mehr die Grundlage von öffentlichen Diskussionen.
• Welche Rolle spielt es für den Umgang mit der Wahrheit, wenn Gefühle mehr zählen als Fakten?
Die Wahrheit wird entwertet. Es stimmt, dass sich die Wirklichkeit für verschiedene Menschen unterschiedlich darstellt. Verheerend ist es aber, den Abgleich der eigenen Eindrücke und Gefühle mit der Realität für überflüssig oder sogar kontraproduktiv zu halten. Dann büßt die Wahrheit ihre Funktion ein: die Funktion als Grundlage, über die alle sich verständigen können.
• Ist das überhaupt eine Lüge im klassischen Sinne?
Der Kirchenlehrer Augustinus hat 395 eine Definition der Lüge formuliert: eine unrichtige Aussage mit der Absicht zu täuschen. Diese Form der Lüge unterscheidet sich von der Einstellung, nicht mehr daran interessiert zu sein, was richtig und was falsch ist. Dieses letztere Phänomen hat zugenommen, weil es ohne Rücksicht auf die Fakten einfacher ist, andere zu überzeugen, zu agieren und zu agitieren.
• Sind auch die Empfänger bisweilen zu bequem für die Wahrheit?
Das ist ein altes Problem, das schon Shakespeare in „König Lear“ aufgreift: Der König glaubt den Schmeicheleien seiner Töchter, obwohl sie offensichtlich nicht stimmen können. Das kennt man heute unter dem Schlagwort „confirmation bias“. Es gibt eine Tendenz zu immer mehr Voreingenommenheit, die einen dazu bringt, die Umwelt und Informationen selektiv und falsch wahr-zunehmen. Zur Wahrheit gehört nicht nur, ehrlich zu sein, sondern auch das Bemühen, die Wahrheit herauszufinden.
• Warum verstärkt sich diese Entwicklung aktuell?
Ein Problem ist in diesem Zusammenhang das Internet, das zunächst als die Maschine betrachtet wurde, die die Wahrheit verteidigt, gegenüber der man nichts verheimlichen kann und die alle Informationen zugänglich macht. Jetzt zeigt sich: Im Internet findet man alles. Jede noch so abwegige Meinung oder Fehlinformation lässt sich bestätigen – und was man nicht findet, schreibt man selbst ohne großen Aufwand hinein. Diese Inflation an Informationen, denen man nicht ohne Weiteres ansieht, ob sie wahr oder falsch sind, verdeckt die Realität, die umso schwieriger zu erkennen wird.
• Sie schreiben in Ihrem Buch auch von der Lüge, „die zu gerade ist, weil sie künstlich hergestellt wird“. Das erinnert an die gefälschten Reportagen von Claas Relotius im „Spiegel“. Könnten die Medien daraus etwas lernen?
Diese Sache ist in doppelter Hinsicht schlecht: einerseits, weil gelogen wurde – andererseits wird sie instrumentalisiert von denjenigen, die den Medien ohnehin unterstellen, zu lügen. Ich bin der Meinung, dass die Qualitätsmedien uns am ehesten die Chance geben, bei der Menge von Informationen die herauszufinden, die der Realität entsprechen. Das kann man als Einzelner nicht mehr leisten, deswegen ist der Qualitätsjournalismus unersetzlich. Der „Spiegel“ arbeitet die Fälschungen öffentlich auf, während diejenigen, die ständig falsche Dinge verbreiten, einfach zur Tagesordnung übergehen. Dadurch haben die Qualitätsmedien derzeit einen gewissen Wettbewerbsnachteil – sie müssen diesen Weg aber gehen.
• Ist der Mensch, der die Wahrheit sucht, nicht grundsätzlich schnell „der Dumme“?
Das stimmt insofern, als „Fake News“ sich nachweislich schneller verbreiten. Sie treffen genau das, was die Leute hören wollen. Sei es als Wunsch oder als Furcht: „Fake News“ bestätigen vorhandene Einstellungen. Die Wahrheit ist im Nachteil, weil sie sperrig ist und mehrere Seiten hat, weil es immer ein „Aber“ gibt.
• Und was ist der Vorteil der Wahrheit?
Man kann sie nicht weglügen. Man kann alles Mögliche behaupten oder glauben, wird aber irgendwann mit der Realität konfrontiert. Wenn man sich auf die Lüge verlässt, steht man irgendwann hilflos da. Der Vorteil der Wahrheit ist, dass sie dem entspricht, wie es wirklich ist: Das klingt banal, ist aber der entscheidende Punkt.
• Bei allem Bemühen: Wie nah kann man der Wahrheit überhaupt kommen?
In vielen Situationen des Alltags kann man dem sehr nahekommen, was als Wahrheit ausreicht – nach der klassischen Definition: Wahrheit soll dem entsprechen, wie es wirklich ist. Schwieriger wird es, wenn unterschiedliche Blickwinkel ins Spiel kommen. Deshalb sollte die Tatsache, dass ein Phänomen aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet wird, welche Unsicherheiten und Wahrscheinlichkeiten dabei auftreten, stets klar benannt werden.
• Viele Institutionen, auch die Kirchen, verlieren das Vertrauen der Menschen. Haben Sie einen Tipp, wie sie es zurückgewinnen könnten?
Es braucht einen klaren Bezug zur Realität. Dazu gehört, einzugestehen, wenn man etwas nicht oder nicht sicher weiß oder sich geirrt hat. Ansonsten bleibt nur das mühsame Geschäft, alles, was man verbreitet, zu überprüfen.