Das Leben ist bunt. Und manchmal auch grau, voller Unwägbarkeiten. Genossenschaftslotse Sylvio Böhm hilft alten, einsamen und Menschen in schwierigen Lebenssituationen dabei, die Hindernisse zu umschiffen.
An seinem ersten Arbeitstag stand Sylvio Böhm im Wohngebiet der städtischen Wohnungsbaugenossenschaft WBG-Einheit Erfurt, schaute zu den vielen Fenstern hoch und fragte sich, wie er die Sache wohl angehen könnte. “Das war die größte Hürde – wie komme ich an die Menschen ran? Dann habe ich mir die Gardinen und die Fenstergestaltung der Wohnungen angeschaut und überlegt, wo vielleicht ein älterer Mensch wohnen könnte. Und da bin ich dann als erstes hin.”
Er weiß noch genau, dass er sich zunächst wie ein Staubsaugervertreter vorkam: “Schönen guten Tag, ich bin der Herr Böhm. Ich bin der Genossenschaftslotse und wollte fragen, in welcher Hinsicht ich Sie unterstützen kann.” So fing alles an, an einer Wohnungstür eines Mehrfamilienhauses, damals vor fünfeinhalb Jahren.
Die einen werden als Model entdeckt, die anderen als Schauspieler. Böhm wurde auch entdeckt: als jemand, der die Menschen mag und ihnen guttut, wenn sie es gebrauchen können. Das war vor ein paar Jahren in einem vornehmen Bekleidungsgeschäft der Erfurter Innenstadt, als der Herrenausstatter einem Kunden einen Anzug verkaufte. Der war so begeistert von seiner freundlichen Art, dass er ein paar Tage später mit weiteren Herren wiederkam. “Die haben mich eine Zeit lang beim Verkaufen beobachtet – und mir danach einen Job angeboten”: als Genossenschaftslotse, zuständig für das seelische Wohlbefinden der Bewohner von etwa 7.400 Wohnungen der WBG-Einheit.
Lotse – das ist jemand, der Schiffe durch schwierig zu befahrende Gewässer leitet, in denen er sich genau auskennt. So jemand wie Böhm. “Die Idee war, dass die Menschen so lange wie möglich selbstbestimmt in ihren Wohnungen leben können. Die Genossenschaft wollte keinen Psychologen und keinen Immobilienwirt in dem Job. Sondern jemanden, dem es von Natur aus gegeben ist, mit vielen verschiedenen und auch schwierigen Menschen klar zu kommen”, erzählt Böhm. Er sagte zu, sich fortan um die Mieter, die Bedarf haben, zu kümmern. Für ihn auch eine Ehrensache: “Wenn man um so etwas gebeten wird, kann man doch nicht ‘nein’ sagen.” Bereut habe er es bis zum heutigen Tag nicht.
Und so ging es los: Statt Anzüge und Hemden an den Mann zu bringen, besucht Sylvio Böhm seitdem die Mieter. Er läuft treppauf, treppab, trinkt hier eine halbe Stunde eine Tasse Kaffee mit dem einen Schützling, schaut sich Fotoalben mit dem anderen an oder hilft bei der Antragsstellung etwa zum Wohngeld. Manche Bewohner holt er zum Spazierengehen ab. “Es geht mir auch darum, sie aus der Wohnung zu locken.” Wenn nichts mehr passiert im Leben, gibt es auch keinen Erzählstoff mehr.
Laut Studien fühlen sich 30 Prozent aller Menschen in Deutschland manchmal einsam, 17 Prozent häufig oder ständig. “Viele meiner Klienten sind sehr wortkarg geworden, weil sie niemanden mehr zum Reden haben. Sie sagen mir, wenn ich komme: ‘Ich habe die ganze Woche mit niemandem gesprochen. Ich habe Angst, dass ich das Sprechen verlerne'”, berichtet Böhm. Einer über 90-jährigen Bewohnerin, die schwer krank und sehr allein ist, hat der 57-Jährige etwa einmal eine Puppe geschenkt: Mit ihr spricht sie an den vielen Tagen der Woche, an denen niemand da ist.
Wenn Böhm das Gefühl hat, dass es noch Sinn hat, stellt er auch Kontakt zu den Angehörigen her. “Manchmal hat nur ein Missverständnis dazu geführt, dass es zwischen Mutter und Tochter keinen Kontakt mehr gibt. Da versuche ich dann zu vermitteln.”
Nicht alle Wohnkomplexe der Genossenschaft haben Probleme; es gibt diese Gegend in Erfurt-Daberstedt, wo alles super läuft. “Hier wohnen sehr viele ältere Menschen – und die meisten schon seit Jahrzehnten. Die helfen sich gegenseitig, feiern jeden Geburtstag zusammen, gehen miteinander einkaufen.”
Es gibt aber auch Ecken, wo es besonders viele Sorgen gibt – wie etwa im Südosten Erfurts, im Stadtteil Am Herrenberg, wo sich die Plattenbauten aneinander reihen. “Hier gibt es Menschen mit Suchtproblemen, finanziellen Engpässen und auch verwahrloste Wohnungen”, erzählt Böhm. Auch hier klingelt er regelmäßig und schaut nach dem Rechten.
Böhm, ein Mann mit weißem Haar und sehr blauen Augen, hat für den Job, den er jetzt macht, früh in seinem Leben das Rüstzeug bekommen. Als Sohn einer alleinerziehenden Mutter kennt er Armut, Existenzängste und auch den Verlust: Einer seiner Brüder verunglückte tödlich.
“Sind Sie denn Pfarrer?”, fragen manche, die er besucht. “Sie haben so eine beruhigende Art.” “Ich hatte eine liebe, fürsorgliche Mama”, erklärt Böhm seine freundliche Gelassenheit. Auch seine Oma habe er verehrt – wie ältere Menschen überhaupt. “Im Haus bei uns wohnten ein paar vornehme ältere Damen, die habe ich schon als kleiner Junge gern besucht.” Einen jungen Praktikanten, der ihn bei seinen Besuchen begleitete und nachher feststellte, er könne mit alten Menschen nichts anfangen, kann er nicht verstehen. “Sowas finde ich erschreckend. Mich haben die Erzählungen älterer Menschen immer schon gefesselt. Man muss doch anerkennen, was sie geleistet haben.”
Wenn er nach einem der Kaffeenachmittage der Genossenschaft einer der älteren Herrschaften in den Mantel hilft und danach die Tür aufhält, sind viele überrascht. Sie sagen dann: “Wie lang ist das her, dass mir jemand in die Jacke geholfen hat.”
Manchmal frage er seine Klienten, ob sie ihren Etagennachbarn eigentlich kennen. “Es sind Zeiten, in denen viele Menschen sich seelisch belastet fühlen. Sie versuchen dann, zusätzliche Aufgaben zu umgehen und sich auf sich selbst zu konzentrieren”, beobachtet Böhm. Bei ihm sei das anders: “Ich habe so viel Platz in meinem Kopf für die Probleme anderer, weil bei mir alles so glatt läuft.” Seine blauen Augen lächeln mit, als er sagt: “Ich bin ein glücklicher Mensch.”
Mieter, die irgendwann ausziehen, zum Beispiel ins Seniorenheim, besucht er auch noch in der neuen Unterkunft. “Das wird nicht von mir verlangt, das mache ich von mir aus. Viele sind mir einfach ans Herz gewachsen.”