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„Letzte-Hilfe-Kurse“ brechen mit einem Tabu

Über die Hälfte der Deutschen wünscht sich, in den eigenen vier Wänden zu sterben. Doch für Familie und Angehörige ist der Tod häufig immer noch ein Tabuthema. „Letzte-Hilfe-Kurse“ wollen das ändern. Sie sind ein bundesweiter Erfolg.

Als eine Teilnehmerin am Ende des Kurses von ihrer Nahtoderfahrung erzählt, wird es still im Raum. Als Kind sprang sie ins Schwimmbecken, öffnete die Augen und war vom Anblick der Unterwasserwelt so beseelt, dass sie tief einatmete. Beinahe wäre sie ertrunken und musste wiederbelebt werden. „Aber es war ein unheimlich schöner Moment“, erinnert sie sich – und mancher Zuhörer kämpft mit den Tränen.
15 Menschen haben sich an diesem Vormittag in einer ehemaligen Hamburger Kirche versammelt. „Dem Sterben einen Raum im Leben geben“, schreibt zu Beginn jemand auf eine grüne Karte und formuliert damit seine Erwartung an den heutigen Tag. Auf einer roten Karte hält ein anderer die Befürchtung fest, „dass ich vielleicht überfordert bin, weil ich mich noch nicht so viel mit dem Thema beschäftigt habe“.

Menschen am Lebensende begleiten und beistehen

Im „Letzte-Hilfe-Kurs“ sollen die Teilnehmer lernen, Menschen am Ende ihres Lebens zu begleiten. Die elf Frauen und zwei Männer sind aus unterschiedlichsten Beweggründen gekommen. Viele ihrer Freunde empfänden angesichts des Todes ihrer Eltern große Hilflosigkeit, erzählt eine 55-Jährige. Eine knapp 80-jährige Teilnehmerin begleitet ihre jüngere Schwester, die unter einer Lungenkrankheit leidet. Eine 38-Jährige betreut ihren Mann, dem die Ärzte noch fünf Jahre gaben, nachdem sie die Nervenkrankheit ALS diagnostizierten. „Jetzt sind wir in Jahr drei.“

Früher sei es gang und gäbe gewesen, dass Menschen im Familienkreis gestorben und ihre Leichen auf dem Esstisch aufgebahrt worden seien, sagt Marina Schmidt, eine der beiden Kursleiterinnen. „Doch das Wissen über den Umgang mit dem Tod ist in unserer Gesellschaft schleichend verloren gegangen.“ Demgegenüber wachse die Zahl der Menschen, die zu Hause sterben möchten. Laut einer Umfrage des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes aus dem Jahr 2017 wollen 58 Prozent der Deutschen in den eigenen vier Wänden sterben. Tatsächlich ist das bei 23 Prozent der Fall. „Es gilt, das uralte Wissen zurückzugewinnen“, sagt Schmidt.

Eine an die Kirchenwand projizierte Präsentation leitet die Teilnehmer durch den Vormittag. „Sterben ist ein Teil des Lebens“, heißt der erste von vier Kursteilen. Die Anwesenden sollen definieren, wann der Sterbeprozess beginnt. „Wenn im Alter die Kräfte nachlassen“, sagt eine. „Wenn ich mich selbst aufgebe“, glaubt eine andere. Die nächste meint, dass das Sterben schon mit der Geburt beginne.

Marina Schmidt erinnert sich noch an die Zeiten, als das Thema Tod in der Gesellschaft ausgeklammert wurde. Weil die frühere Krankenschwester es nicht ertragen konnte, dass Krankenhauspatienten zum Sterben einfach in die Badezimmer geschoben wurden, begann sie, sich in der Hospizarbeit zu engagieren. Heute ist die 55-Jährige Koordinatorin zweier Hospizdienste in Hamburg und seit 2015 Mitglied des bundesweiten Projektteams „Letzte Hilfe“. Viele solcher Schulungen hat sie bereits geleitet. „Viele Menschen empfinden es als befreiend, über das Sterben sprechen zu dürfen“, berichtet sie von ihren Erfahrungen. „In unseren Kursen wird manchmal geweint, aber noch viel mehr gelacht.“

Im zweiten Kursteil „Vorsorgen und Entscheiden“ geht es um die Patientenverfügung und die Möglichkeiten ambulanter und stationärer Betreuung. In Teil drei mit dem Titel „Leiden lindern“ erwartet die Anwesenden ein Experiment. Mit einem mit Wasser getränkten Mundpflegestäbchen sollen sie sich gegenseitig die Lippen oder – wer mag – auch die Zunge benetzen. „Für Angehörige ist das eine gute Möglichkeit, den Sterbenden etwas Gutes zu tun“, rät Schmidt. Weitere Optionen seien, den Betroffenen etwas vorzulesen, ihre Hand zu berühren oder mit Aromaölen für eine angenehme Atmosphäre zu sorgen.

Die Praxiseinheit erinnert an die klassischen Erste-Hilfe-Kurse, in denen die Teilnehmer mit einem Partner etwa die stabile Seitenlage üben. Die Ähnlichkeit kommt nicht von ungefähr: „Was mit Erster Hilfe geht, muss auch mit Letzter Hilfe funktionieren“, dachte sich der Notarzt und Palliativmediziner Georg Bollig aus dem norddeutschen Schleswig. Der 52-jährige Initiator der „Letzte-Hilfe-Kurse“ war bereits als Jugendlicher Ausbilder für Erste Hilfe und fragte sich während seines Aufbaustudiums in Palliative Care, ob es nicht auch für die Begleitung Sterbender eine Schulung brauche. 2008 entwickelte er ein erstes Modell – und erntete zunächst Kritik. Wie soll in nur vier Stunden ein so komplexes Wissen vermittelt werden, lautete der Haupteinwand.

Den eigenen Tod – und das Leben davor bedenken

Doch Bollig begann mit Hilfe von Experten, seine Idee in die Praxis umzusetzen. Eine Arbeitsgruppe mit Mitgliedern aus Deutschland, Dänemark und Norwegen entwickelte ein Konzept. Der weltweit erste „Letzte-Hilfe-Kurs“ fand im November 2014 in Norwegen statt. Bald darauf verbreitete sich das Modell auch in Deutschland. Darüber hinaus finden die Schulungen in „Letzter Hilfe“ auch in acht weiteren europäischen Ländern statt. Für Bollig ein Zeichen, dass das Thema Sterben in der Gesellschaft wieder an Bedeutung gewinnt. „Mein Wunsch wäre, dass Letzte-Hilfe-Kurse so normal werden wie Erste-Hilfe-Kurse“, sagt er.

In Hamburg ist Marina Schmidt nach gut vier Stunden bei der vierten und letzten Einheit „Abschied nehmen“ angelangt. „Der Moment des Todes“ steht groß auf einer Folie, die eine Pusteblume zeigt. Eine Teilnehmerin erzählt, wie ihre Mutter in ihren Armen starb, und muss weinen. Und die Frau mit dem ALS-kranken Ehemann berichtet von ihrer ständigen Angst, eines Morgens neben dem toten Partner aufzuwachen.

Es ist deutlich zu spüren, wie gut der Austausch allen tut. Mit neuem Mut kehren sie in ihre Familien und an die Sterbebetten zurück. Mit auf den Weg bekommen sie einen kleinen Zettel, der sie daran erinnert, auch den eigenen Tod und vor allem das Leben davor nicht zu vergessen. Die Aufschrift: „Bevor ich sterbe, möchte ich…“