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Lesen und Schreiben lernen im Alter

Ein Dienstag in der Offenbacher Innenstadt. Andrei Pisaru eilt für seine Besorgungen durch die Fußgängerzone und achtet kaum auf seine Umwelt. Ein Infostand fällt ihm dennoch auf: das ALFA-Mobil. Auf einem Banner steht in großen Buchstaben: „Besser lesen, besser schreiben. Für Erwachsene.“ Der junge Mann fühlt sich angesprochen.

Pisaru ist einer von über 6,2 Millionen Erwachsenen in Deutschland, die Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben. Das ALFA-Mobil will das ändern. Stefan Wälte und sein Team touren mit dem weißen Transporter durch ganz Deutschland und bauen Infostände in den Innenstädten auf. Träger des Mobils ist der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung, ein gemeinnütziger Verein in Münster. Gefördert wird das Projekt durch das Bundesbildungsministerium.

Wälte und seine Kolleginnen und Kollegen wollen die Bevölkerung aufklären und sensibilisieren. Denn das Thema ist bei vielen Menschen mit Scham besetzt. Wälte vergleicht es gerne mit dem Fach Mathematik. Darin könne man sogar die Schulnote fünf haben und jeder hätte Verständnis. Wenn jemand nicht lesen und schreiben könne, sei jedoch schnell ein Stempel drauf: „Die Person muss dumm oder faul sein. Und beides ist überhaupt nicht der Fall.“

Wälte arbeitet seit neun Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim ALFA-Mobil. Er kennt die Situation von Betroffenen: „Es ist häufig so, dass sie gesundheitliche Probleme haben, weil sie seltener zum Arzt gehen oder Medikamentenanweisungen nicht lesen können“, so Wälte. Viele Betroffene würden auch kaum ihre Wohnung verlassen, weil sie keine Straßenschilder lesen könnten und deswegen auch nicht Bus oder Bahn führen.

So ähnlich geht es auch Andrei Pisaru. Am Infostand in Offenbach erzählt er den Mitarbeitenden des ALFA-Mobils, wo er Unterstützung benötigt: „Wenn du mal einen Brief ans Amt oder zum Hausarzt schreiben willst, dass du das korrekt grammatikalisch schreiben kannst. Das will ich mehr verbessern.“

Das ALFA-Mobil vermittelt an Kurse von Partnern wie der Volkshochschule. Diese sind oft kostenlos. Interessierte können sich auch beim ALFA-Telefon unter 0800/53 33 44 55 informieren.

Bei den Aktionen des ALFA-Mobils sind immer auch sogenannte „Lernbotschafter“ mit dabei: Personen, die selbst erst als Erwachsene Lesen und Schreiben gelernt haben. Sie können von ihren eigenen Erfahrungen erzählen und anderen Betroffenen Mut machen.

Einer der Lernbotschafter ist Dan Mohr. Als Kind bekommt der Mainzer kaum ein Wort heraus. Aufgrund seines Sprachfehlers wird er in der Schule gemobbt. Mit 14 Jahren verlässt er die Schule. Zu dem Zeitpunkt kann er weder lesen noch schreiben.

Der Wendepunkt kommt bei Dan erst im Alter von 55 Jahren. Scheinbar zufällig geht er mit seinen beiden besten Freunden spazieren. Als sie an der Mainzer Volkshochschule vorbeikommen, sagt einer der beiden: „Lasst uns kurz reingehen. Ich muss was nachgucken.“ Im Vorraum wartet eine fremde Frau auf sie. „Das ist deine neue Klassenlehrerin.“ Zunächst versteht Dan gar nichts. Doch dann lässt er sich darauf ein und besucht einen VHS-Kurs.

Nach wenigen Terminen will Dan wieder hinschmeißen, doch dann zieht er den Kurs durch. Nach vier Jahren kann er zum ersten Mal eine Zeitung lesen, nach acht Jahren auch schreiben. Als er nach dem letzten Kurstermin nach Hause kommt, wird er überrascht: Seine Frau und seine Freunde haben ihm eine Party organisiert. Mit 63 Jahren feiert Dan seinen Schulabschluss.

Der Kurs hat Dans Leben verändert. Zum ersten Mal traut er sich, allein Zug zu fahren. Sein größtes Erlebnis ist, als er zum Arzt geht und einen Fragebogen erhält: „Ich habe den zum ersten Mal allein ausgefüllt. Da war ich so stolz auf mich!“

So wie Dan geht es vielen Betroffenen, sagt Wälte. Ihre Lebensqualität und auch die gesellschaftliche Teilhabe erhöhten sich enorm. Nach so einem Kurs sei ihr Leben „auf einmal bunt geworden“.

Auch die Aktion in Offenbach hat Erfolg: Am Tag danach haben bereits drei Personen bei der VHS Offenbach angerufen. Auch Andrei Pisaru will einen Kurs besuchen. Er findet es toll, dass es die Angebote vom ALFA-Mobil gibt. „Man muss den Mut haben, zu sagen: Das kann ich nicht gut. Hier brauche ich Hilfe.“