Gerade wurde das Wissenschafts- jahr 2019 zum Thema „Künstliche Intelligenz“ ausgerufen. Algorithmen nehmen Menschen Entscheidungen ab. Sie sind intelligente Werkzeuge – was bedeutet das für unser Menschsein? Entsteht womöglich sogar ein künstlicher Geist ohne Körper? Und welche Rolle kann der Glaube in diesen Entwicklungen spielen?Von Thomas C. Müller, Domprediger am Berliner Dom.
Wie stark Künstliche Intelligenz (KI) wirklich ist, wurde mir erst 2017 bewusst, als ich von AlphaZero hörte. Das autodidaktische Computerprogramm brachte sich selbst das Schachspielen innerhalb von acht Stunden (!) so gut bei, dass es die Spielstärke des über Jahre entwickelten, hochspezialisierten Schachprogramms Stockfish übertraf, gegen das Menschen längst keine Chance mehr haben.
Inzwischen ist KI längst überall auf dem Vormarsch, nicht nur in Smartphones und „intelligenten“ Lautsprechern. Bei der Berufs- und Partnerwahl, bei der Diagnose von Krankheiten, bei der Rechtsberatung, dem Schreiben von Drehbüchern und Musikstücken wird der Einsatz von KI zunehmend selbstverständlicher werden und dem Menschen immer mehr Entscheidungen abnehmen. Nach der Prognose des israelischen Historikers Yuval Noah Harari werden Menschen lernen, den Algorithmen selbst in persönlichen Bereichen mehr zu vertrauen als ihrer eigenen Intuition. Freilich reicht die Diskussion um KI noch viel weiter. Denn neben der sogenannten schwachen KI, die im Grunde Intelligenz nur simuliert, wird auch an der „starken KI“ gearbeitet, die über echte Intelligenz und womöglich sogar über Bewusstsein verfügt. Während viele Forscher bezweifeln, dass es sie jemals geben wird, sehen andere atemberaubende Entwicklungen voraus. Ein renommierter Vertreter seiner Zunft, Jürgen Schmidhuber, Direktor des schweizerischen Forschungsinstituts für KI, meint gar: „Es ist etwas, was nicht nur die Menschen transzendiert, sondern das Leben selbst.“ Er ist sich sicher, dass ein neues, künstliches Leben entsteht, das sich sogar anschicken wird, das Weltall zu kolonisieren. Ist also der Mensch, wie wir ihn kennen, ein Auslaufmodell, das am Ende von Maschinen beherrscht wird? Oder wird die Zukunft den Cyborgs, also technisch hochgerüsteten Menschen, gehören? Was heute noch wie eine Horrorvision aus einem Science-Fiction erscheint, ist schon längst Gegenstand milliardenschwerer Forschungen. Aber wie auch immer man die zukünftige Entwicklung einschätzt: Neben den immensen ethischen Herausforderungen stellt sich schon heute auf ganz neue Weise eine uralte Frage: „Was ist der Mensch?“ (Psalm 8). Was ist etwa der Geist des Menschen, wenn neuronale Netze nachgebaut werden und den Menschen sogar übertreffen? Ist der Mensch selbst nur ein biologischer Algorithmus? Der Glaube stellt dem die Gottebenbildlichkeit des Menschen entgegen. Er sieht den Menschen als lebendige Seele, dessen Geist die Fähigkeit hat, Empathie und Liebe zu entwickeln, und sich von Gottes Geist erfüllen zu lassen. Für eine wahrhaft humane Zukunft könnte dieses Bild vom Menschen eine immense Bedeutung haben. Ob es sich aber im Angesicht einer immer wirkmächtiger werdenden Logik der KI behaupten kann, ist noch nicht entschieden. Gefragt ist ein neuer, ebenso streit- wie diskursfähiger, christlicher Glaube an den Menschen.