Traumata, Persönlichkeitsstörungen und psychische Krankheiten erben Kinder oft von ihren Eltern. Diese Weitergabe zwischen Generationen hat oft mehr als nur eine Ursache.
Wenn Marco A. an einem Hochhaus vorbeigeht, hat er das unbestimmte Bedürfnis, hinauf in den obersten Stock zu gehen und sich hinabzustürzen. Manchmal erleidet er Fressattacken, stopft alles mögliche Essbare in sich hinein, um so ein Gefühl von innerer Leere zu bekämpfen. Alpträume verfolgen ihn. Er weiß selbst nicht, wieso.
„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“
Seine Mutter war depressiv. Marco A. musste stets „ein kleiner Held“ sein, konnte sich immer nur auf sich selbst verlassen. Einen Zusammenhang mit seinen eigenen Problemen sieht er zunächst nicht. Erst in der Psychotherapie dämmert ihm, dass seine Mutter da etwas an ihn weitergegeben haben könnte.
„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“, heißt es im Volksmund. Psychologen haben schon früh erkannt, dass dieses geflügelte Wort einen realen Hintergrund hat. Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, nannte dieses Phänomen „Gefühlserbschaft“.
Einen Teil dieser Gefühlserbschaft erklären Wissenschaftler heute tatsächlich mit den Genen. Das Risiko, am Aufmerksamkeitsdefizits- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) zu erkranken, liegt zu etwa 80 Prozent in den Erbanlagen.
Aber die Gene erklären nicht alles. Mitte der 1960er Jahre kamen viele Kinder und Enkel von Überlebenden des Holocaust in die Praxen der Psychotherapeuten. Sie klagten über Depressionen, Angstzustände oder psychosomatische Krankheiten. Die Traumatisierung der Eltern und Großeltern hatte sich auf die Nachkommen übertragen. Eindeutig nicht genetisch.
Diese Übertragung funktioniert über das Verhalten der Eltern. „Affektangleichung“ nennen das Psychologen. Sie tritt schon sehr früh ein. Säuglinge sind sehr gut darin, die Gefühlslage ihrer Bezugspersonen einzuschätzen – müssen sie auch sein, denn von ihnen sind sie komplett abhängig. Babys depressiver Mütter etwa wirken schon im Alter von einem Jahr eher ruhig und apathisch.
Eltern, die sich zu ihren Kindern nicht empathisch verhalten, sie sogar ruppig behandeln, sie schlagen oder missbrauchen, „vermitteln so unbeabsichtigt ihren Kindern das Gefühl der Ausgeliefertheit und Ohnmacht, das den Kern ihrer eigenen Traumatisierung ausmacht“, erklärt die Sozialpsychologin Angela Moré. „Das Kind erlebt dadurch eine paradoxe Situation: Die Person, die normalerweise für die Lösung von beängstigenden Situationen aufgesucht wird, wird selbst zur Quelle der Angst.“
Über diese Mechanismen pflanzen sich nicht nur Traumata und psychische Krankheiten fort, sondern auch andere Verhaltensmuster. Zum Beispiel die narzisstische Persönlichkeitsstörung. Narzisstische Menschen wirken nach außen oft eitel, arrogant und leicht kränkbar. Andere wirken übermäßig angepasst. In Wirklichkeit überspielen sie damit aber, dass sie ein geringes Selbstwertgefühl haben. Den Selbstwert holen sie sich bei anderen ab, indem sie ihr Gegenüber so manipulieren, wie sie es haben wollen. Oft treten sie rechthaberisch auf und sind sehr leicht zu kränken. Häufig erfährt man von ihnen nur dann Zuwendung, wenn man sich ihnen anpasst.
Kinder von Narzissten machen daher die Erfahrung, dass sie so sein müssen, wie ihre Eltern sie haben wollen. Ihre Eltern unterbinden ihre Eigenständigkeit. „Daraus erwächst zum einen das Gefühl, alleingelassen und missverstanden zu werden, und zum anderen der Wunsch, endlich als sie selbst angesehen und angenommen zu werden“, sagt die Psychologin und Narzissmus-Forscherin Bärbel Wardetzky. „Doch genau davor haben sie auch große Angst, weil sie glauben, nicht gut genug oder nicht richtig zu sein.“
Denn diese Angst, dieses geringe Selbstwertgefühl haben ihre Eltern tief in ihnen verwurzelt. Kinder von Narzissten werden so häufig wieder zu Narzissten. Der Kreislauf beginnt von vorn.
Diese Kreisläufe betreffen unter Umständen die ganze Gesellschaft. Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung kompensieren ihr geringes Selbstwertgefühl häufig dadurch, indem sie andere abwerten. Das sind häufig Ausländer allgemein, Juden oder – ganz aktuell – Muslime und Flüchtlinge. Der Psychiater Hans-Joachim Maaz glaubt sogar, es würde auf der Welt gar keine Fremdenfeindlichkeit geben, wenn viele Menschen „nicht auf ihrer narzisstischen Kränkungswut wie auf einem Pulverfass sitzen würden“.
Am schlimmsten leiden unter dieser Persönlichkeitsstörung meist die Ehepartner oder Kinder. Durch die ständige Erfahrung von Ohnmacht und Ausgeliefertsein stellt sich vor allem bei den Kindern das Gefühl der Wertlosigkeit ein. Aber weil sie das Bedürfnis haben, ihre Eltern zu lieben, identifizieren sie sich mit ihren Peinigern. Sie übernehmen deren Vorurteile und Hass.
Eine stabile Bezugsperson hilft Kindern
Wissenschaftler aus Berlin, Heidelberg, Aachen und Magdeburg erforschen derzeit den Kreislauf von Misshandlung und Traumatisierung. Sie glauben, dass es neben der genetischen und der psychischen Weitergabe auch eine hormonelle Komponente gibt. Mütter zum Beispiel, die zu wenig des Neurotransmitters Oxytocin im Blut haben, erleben den Umgang mit ihrem Kind als wenig erfüllend, empfinden ihn eher als Stress. Und mit Stress können vor allem jene Personen nur schwer umgehen, die emotional instabil und impulsiv sind.
Die gute Nachricht ist: Auch mit einem traumatisierten oder narzisstischen Elternteil ist die Entwicklung eines Kindes nicht vorbestimmt. Manche Menschen sind gegen derartige Belastungen wohl schon von Geburt an enorm widerstandsfähig. Vor allem wenn sie mindestens eine stabile Bezugsperson haben, können sie sich gut selbst schützen.