Medfluencer und Finfluencer, jetzt auch noch Sickfluencer? Der Begriff ist umstritten, schwingt darin doch mit, dass manche Accounts eher klagen als helfen – oder gar in die Irre führen. Das Phänomen gibt es trotzdem.
Ein Herzfehler, eine seltene Krebsart oder ADHS: Es gibt kaum eine Erkrankung, zu der sich keine Blogs oder Accounts in den Sozialen Medien finden. Sogenannte Sickfluencer, die über ihre Erfahrungen berichten, können anderen durchaus helfen: “Die Rolle der Community ist zentral”, sagte die Trendforscherin Angel Rose Schmocker kürzlich der “Apotheken Umschau”. Wichtig sei, zwischen medizinischer Diagnose und persönlicher Situation zu unterscheiden. Doch schon die Erkenntnis, dass man mit bestimmten Erfahrungen nicht allein sei, helfe vielen Menschen. Schmocker untersucht das Phänomen “Krank im Netz” an der Zürcher Hochschule der Künste.
Auch die Soziologin Laura Wiesböck sieht es als “sehr willkommene Entwicklung”, dass etwa psychische Erkrankungen sichtbar gemacht werden und dass über mögliche Behandlungsmethoden aufgeklärt wird. Durch zahllose Tipps für Selbstfürsorge und die Optimierung der mentalen Verfassung drohe jedoch eine Art Fixierung, mahnt sie. Apps und Tracker befeuerten die – irreführende – Erwartung, dass man das eigene Wohlergehen durchweg im Griff haben könne.
Der #mentalhealth-Trend führe jedenfalls nicht zu einer allgemeinen Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen, so Wiesböck. Für Narzissmus oder Schizophrenie gebe es weiterhin wenig Mitgefühl. Umgekehrt versuchten Menschen, die sich wegen ineffizienter Handlungsweisen wertlos fühlten, “einen legitimen Raum herzustellen”, wenn sie bei sich selbst ADHS vermuteten und sich damit von einer zugeschriebenen Verantwortung zu entlasten. ADHS-Videos boomen vor allem auf Tiktok, wo sich überwiegend Teenies tummeln.
Während der Coronazeit verlagerte sich vieles in den digitalen Raum. Der Kommunikationswissenschaftler Jacob Johanssen spricht sich indes dagegen aus, diese Entwicklung als “beliebigen Trend der Gen Z” abzutun. Menschen zeigten in entsprechenden Beiträgen ihre empfindsame Seite, sagte er der Zeitschrift “Psychologie Heute”. “Die Videos lassen Raum für den Zweifel, fürs Innehalten” – und daran fehle es in vielen öffentlichen Debatten.
Studien zeigen, dass sich rund ein Viertel der jungen Menschen bei Tiktok über Gesundheitsthemen informiert. Trendforscherin Schmocker betont: “Soziale Medien sind kein Ersatz für eine medizinische und psychologische Betreuung.” Themen wie Krankheit und Krisen hätten immer schon ein Publikum gefunden. Neu sei eher, dass sich etwa Ärztinnen an “Sickfluencer” wenden, also Personen, die öffentlich über ihre Krankheit oder Behinderung sprechen – um Tipps für einen sensibleren Umgang zu bekommen.
Denn dass sich in der Gesellschaft vieles verschiebt, hat auch Folgen für die Vorstellung davon, was als “gesund” oder “krank” wahrgenommen wird. So kritisiert der Psychotherapeut Holger Richter, dass klassische Diagnosen oftmals eine zu große Rolle spielten und andere Verschiebungen kaum bedacht würden: beispielsweise die Auflösung von Geschlechterrollen, die ein Faktor für eine erschwerte Partnersuche sein könne. Sein Buch heißt – treffend – “Jenseits der Diagnosen”.
Ein offener Umgang mit schwierigen Themen kann also durchaus wohltuende Effekte haben – für Einzelne und auch für die Gesellschaft. Zugleich warnen Fachleute vor falschen Versprechen und dubiosen Angeboten, die gerade online oft leichtes Spiel haben. Das zeigt derzeit etwa das Beispiel Diabetes. Der Vorstandsvorsitzende von diabetesDE, Jens Kröger, spricht von einer “Welle von Fake-Angeboten, die auf die Verunsicherung chronisch kranker Menschen zielt”.
Diesem “hochgradig verantwortungslosen” Vorgehen scheine die öffentliche Hand kaum etwas entgegenzusetzen, so Kröger. Betroffene berichten demnach, dass sie nach Bestellung vermeintlicher Produkte entweder gar keine Lieferung oder aber minderwertige Geräte ohne diabetologischen Nutzen erhalten hätten. Auch in den Praxen steige daher der Beratungsbedarf. Die Präsidentin der Deutschen Diabetes Gesellschaft, Julia Szendrödi, warnt, die Sozialen Medien würden “immer stärker zu einem rechtsfreien Raum für gesundheitsgefährdende Desinformation”.