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Kommunikation im Fluss

Sie steht für Fernweh, Sehnsucht und ein wenig Abenteuer: die Flaschenpost. Dieser besonderen Art sich mitzuteilen ist in Bingen eine Ausstellung gewidmet – nur einen Flaschenwurf vom Rhein entfernt

KNA/Jörg Loeffke

Es gibt Ausstellungen, die ziehen einen aufgrund der offenkundigen Pracht und Fülle gleich in ihren Bann. Und es gibt dezentere, leisere Präsentationen, die erst erschlossen werden wollen. Zu letzteren gehört die Schau „1001 Flaschenpost“ in Bingen am Rhein. Der Kölner Aktionskünstler Joachim Römer zeigt hier Funde, die ihm der Rhein in den vergangenen Jahren bei Uferspaziergängen vor die Füße gespült hat.

Flaschen, alte Filmdosen und ein Gefrierbeutel

Die Ansammlung von Flaschen und Behältnissen aller Art geht zunächst auf Distanz zum Betrachter. Jedes Exponat steht in seinem eigenen Fach – unnahbar hinter Glas in der wellenförmig geschwungenen Vitrine mit fünf Etagen, die sich durch den ganzen Ausstellungsraum im Historischen Museum am Strom zieht. Die Botschaft in den Flaschen selbst bleibt dem Publikum verborgen. Zunächst jedenfalls. Zu sehen sind nur die unterschiedlichen Formen, Farben und Materialien.
Das kann auch mal ein zugeknoteter Luftballon, ein Gefrierbeutel, eine Plastikmadonna aus Lourdes, eine Tictac- oder eine alte Filmdose sein. Manchmal finden sich auch Beigaben wie Steine, Sand oder Federn. Andere Botschaften kommen ohne Behältnis aus: etwa mehrere zu Schiffchen gefaltete Zettel oder eine beschriebene Quietscheente.
Eigentlich könnte der Gang durch die Ausstellung nach wenigen Minuten beendet sein. Wäre da nicht der begleitende Katalog mit dem vielsagenden, einer Flaschenpost entnommenen Titel „Sehnsucht ziehe mich dahin, wo ich hingehöre“. In ihm hat Römer akribisch jeden Fund dokumentiert – Jahr und Monat der Entdeckung, den Ort, die Botschaft. Nun, mit dem Eintauchen in die Dokumentation entfaltet die Schau ihren eigentlichen Reiz. Schließlich bestimmen die Betrachter selbst, wohin es sie treibt und welche Flaschen ihre Aufmerksamkeit und Neugier wecken.
Manche Fundstücke kommen ohne geschriebene Botschaft aus: zum Beispiel der in einer Babyflasche deponierte negative Schwangerschaftstest. Mitunter sind es gerade die zunächst unscheinbaren Exponate, die eine besondere Botschaft bergen – etwa jene Plastikflasche, in der sich zwei weißgoldene, mit Brillanten besetzte Eheringe befinden. Beim Nachschlagen für weitere Informationen über das Fundstück 04/05-04 ist zu erfahren: „… die Ehe, die durch diese Ringe geschlossen wurde, ist beendet.“ Oder das Behältnis, in dem sich ein beidseitig beschriebener Zettel mit dem Bild eines Wolfes befindet: „Lieber Vater, in Liebe Dein Jürgen“, heißt es da. Und weiter: „Lieber Schwiegerpapa, zum heutigen Tag schicke ich Dir einen lieben Gruß. Schade, dass wir uns auf Erden nie getroffen haben, grüß mir mein geliebtes Kind und halt ein Auge auf ihn.“
Römers ungewöhnliche Sammlung entstand eher durch Zufall. Weil er vor 17 Jahren nach Material für Skulpturen und Installationen Ausschau hielt, war der Künstler öfter am Rhein unterwegs. Immer wieder fand er als „Beifang“ auf seinem Streifzug auch angeschwemmte Nachrichten. Anfangs hat er sie nur  durchnummeriert – bis 26. Aber als er  an einem Tag über 20 Flaschen fand, wusste er: „Jetzt muss ich das angehen“. Heute bezeichnet Römer seine Sammlung als ein „Archiv der Alltagspoesie“.
Eine Flaschenpost abzuschicken, dem Wasser zu übergeben und der Strömung anzuvertrauen – in Zeiten  von SMS und E-Mails wirkt das mehr als anachronistisch. Denn ungewiss bleibt: Kommt die Nachricht an? Wen erreicht sie? Reagiert gar jemand darauf? „Der Fluss wird zu einer höheren Instanz“, meint Römer. Und das Flaschenpostschreiben „eine rituelle Handlung, sich von seelischen Nöten zu entlasten und sie dem Fluss zu übergeben“.

„Man findet nur, was man nicht zu sehr sucht“

Noch immer geht Römer sein Suchgebiet am Rhein ab und hält Ausschau nach angespülten Nachrichten. Gerade jetzt im Sommer, an lauen und launigen Abenden am Ufer, würden viele „Flaschenposten“ – wie der Künstler die schwimmenden Objekte nennt – auf die Reise geschickt. Inzwischen folgt er bei der Suche seiner Intuition. Auf die richtige innere Haltung komme es an, sagt Römer. Sein fast schon philosophisch angehauchter Tipp für alle, die es ihm gleichtun möchten: „Man findet nur, wenn man nicht zu sehr sucht.“

Die Ausstellung ist noch bis zum 1. November zu sehen. Historisches Museum am Strom, Museumstraße 3, 55411 Bingen, E-Mail: museum-am-strom@bingen.de. Öffnungszeiten: dienstags bis sonntags 10 bis 17 Uhr.