Ein klares “Nein” auch im zweiten Anlauf: In Chile ist der nächste Versuch gescheitert, die Verfassung aus der Zeit der Militärdiktatur durch einen neuen Text zu ersetzen. Wie kann es nun weitergehen?
In Chile hat die Bevölkerung auch den zweiten Versuch abgelehnt, eine neue Verfassung zu installieren. Nach 99,8 Prozent ausgezählten Stimmen sieht es so aus, dass 55,7 Prozent der Wahlberechtigten gegen den neuen, diesmal überwiegend von rechten und konservativen Kräften ausgearbeiteten Verfassungsentwurf gestimmt haben.
Rund 44,2 Prozent votierten für die Annahme des Textes, der die noch in Teilen aus der Zeit der Militärdiktatur von General Augusto Pinochet (1973-1990) stammende Verfassung ablösen sollte. Für Kritik sorgten unter anderem Pläne für eine verschärfte Abtreibungsregelung, die Abschiebung von illegal ins Land gekommenen Ausländern und für ein Streikverbot für Beamte.
Der Gründer der rechtskonservativen Republikanischen Partei, Jose Antonio Kast, dessen Lager maßgeblich an der Ausarbeitung des neuerlichen Entwurfs beteiligt war, räumte die Niederlage am Sonntagabend (Ortszeit) ein: “Wir mögen traurig sein, aber wir sind glücklich, weil wir unsere Aufgabe erfüllt haben.”
Die Ablösung der “Pinochet-Verfassung” war eines der zentralen Anliegen der überwiegend von der jungen Generation Chiles getragenen Sozialproteste 2019 und 2020. Fast 80 Prozent der Wähler hatten anschließend dafür gestimmt, die noch gültige Verfassung durch einen neuen Entwurf zu ersetzen. Die Proteste mündeten auch in der Wahl des ehemaligen Studentenführers Gabriel Boric zum Präsidenten, der im März 2022 sein Amt im Alter von 35 Jahren antrat.
Nach den Protesten folgte auch eine von linken politischen Kräften Chiles dominierte verfassungsgebende Versammlung, die von 2021 bis 2022 ein neues Grundgesetz ausarbeitete, das unter anderem ein Recht auf Wohnraum, Bildung und Gesundheit garantiert, eine Frauenquote von 50 Prozent in allen Staatsorganen festgeschrieben und den indigenen Gemeinschaften ein Selbstbestimmungsrecht eingeräumt hätte.
Doch mit 62 Prozent Ablehnung erteilten fast zwei Drittel der Chilenen diesem Entwurf eine klare Absage. Er war ihnen offenbar “zu links”. In einem zweiten Anlauf über Verfassungsräte, die nun von den rechten Parteien dominiert wurde, entstand der nun abglehnte zweite Entwurf, der vielen Chilenen offenbar “zu rechts” war.
Wie es nun weitergeht, weiß niemand so genau. Präsident Boric versuchte in einer ersten Reaktion nach der Niederlage, auf beide Lager zuzugehen: Die Politik stehe beim chilenischen Volk in der Schuld, sagte der Linkspolitiker am Abend. Das Land sei polarisiert und gespalten. Dem Verfassungsprozess sei es nicht gelungen, die Hoffnungen auf eine neue Verfassung für alle zu erfüllen, so der Präsident. Die Schuld der Politik müsse dadurch beglichen werden, dass “wir die Lösungen erreichen, die die chilenischen Männer und Frauen brauchen und von uns verlangen”.
Künftig müssten die Ansichten aller Chilenen berücksichtigt werden, so Boric weiter: Auch die die mit “Ja” gestimmt hätten, dürften nicht außen vor gelassen werden. “Es ist an der Zeit, das Ergebnis derjenigen anzuerkennen, die mit ‘Nein’ gestimmt haben, ohne jedoch zu vergessen, dass ein großer Teil der Wähler für ‘Ja’ gestimmt hat”, sagte Boric, der gestärkt aus dem Wahltag hervorgehen dürfte.
Viele Fachleute sehen nun die politische Chance, die beiden Lager zusammenzubringen und einen Konsens zu finden, mit dem eine Mehrheit der Chilenen leben kann. Dazu müssten allerdings sowohl die linken als auch die rechten Kräfte des Landes Abstriche von ihren Forderungen machen.