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Junge Menschen im Dauerkrisen-Modus – Eltern als “Leuchttürme”

Wut. Frust. Rückzug: Junge Menschen sind heute Studien zufolge stark belastet. Manche Signale können auf tiefere seelische Not hindeuten. Eltern sind in solchen Momenten nicht machtlos, betonen Fachleute.

Philipp kommt kaum noch aus seinem Zimmer, spielt nicht mehr mit seinem kleinen Bruder, scheint ständig mies gelaunt zu sein. Nele isst selten mit der Familie, tippt ständig auf dem Handy und reagiert mit hochgezogenen Augenbrauen, wenn die Eltern sie nach den Hausaufgaben fragen. In beiden Fällen fragen sich Mutter und Vater: Ist das noch Pubertät? Oder droht eine ernsthafte Krise?

Melanie Hubermann hat täglich mit solchen Situationen zu tun. Die Familientherapeutin nennt einen Schlüssel, um an die “eigentlichen Themen” zu kommen. Denn Jugendliche sagten nicht: “Ich fühle mich alleine, weil ich keine Freunde habe” oder: “Die Schule macht den Alltag kompliziert”. Eher fielen drastische Aussagen wie: “Ich hasse mein Leben.” Nicht abbügeln, sondern nachfragen, laute die Devise für Eltern, zum Beispiel: “Das klingt kompliziert, was könnten wir denn dagegen tun?” Das sei ein erster Schritt gegen Ohnmachtsgefühle – auf beiden Seiten.

Ob Angst- oder Essstörung, Depression oder Aggressionen gegenüber sich selbst und anderen – junge Leute sind psychisch massiv belastet. 40 Prozent der Befragten zwischen 18 und 29 Jahren gaben in einem Panel des Robert Koch-Instituts an, ihre seelisches Wohlbefinden sei im vergangenen Jahr “eher niedrig” gewesen – das ist der höchste Wert unter allen Altersgruppen.

Schon während der Corona-Zeit habe sich abgezeichnet, dass es Folgen haben werde, Kindern ihre Entwicklungsräume zu nehmen, sagt Hubermann. “Überraschend ist, wie lange das nachwirkt – alarmierende Symptome nehmen ja bis heute zu.” Anhaltende Krisen verunsicherten junge Menschen; belegt ist das insbesondere im Hinblick auf Angst vor den Folgen des Klimawandels.

Doch auch die Eltern stünden etwa durch finanzielle Nöte oder Sorge angesichts des neuerlichen Kriegs in Europa “nicht mehr fest in ihrem Fundament”, fügt die Expertin hinzu. Dabei bräuchten Kinder und Jugendliche ihre Familie als sicheren Hafen, der eine klare Struktur habe – mit den Eltern als “Leuchtturm”, der Orientierung biete. Der Nachwuchs, das sind in diesem Bild die Boote, die im Hafen seetüchtig gemacht werden und sich am Leuchtturm orientieren können, wenn sie schließlich selbst in See stechen – vor allem, wenn es dort einmal rau zugeht.

So erklärt Hubermann die “Neue Autorität” – ein Konzept, das nichts mit überkommenen Erziehungsmethoden alter Schule zu tun hat. Neu sei daran vor allem, “dass auch die Autoritätsfiguren im Blick sind, die in ihrer Präsenz gestärkt werden sollen, um ihren Kindern Sicherheit zu vermitteln”.

Entwickelt hat dieses Modell der israelische Psychologe Haim Omer. Von ihm ist soeben ein Buch erschienen, das suizidgefährdete Jugendliche in den Mittelpunkt stellt. “Kinder sind heute mehr Gefahren und Versuchungen ausgesetzt als je zuvor in der Geschichte der Menschheit”, schreiben Omer und seine Kollegin Anat Brunstein-Klomek: Dies reiche von purer Reizüberflutung über aggressive Werbung und Extrem-Diäten bis hin zu konkreten Suizid-Ratschlägen, die im Netz zu finden sind.

Omer und Brunstein-Klomek vergleichen diese Gefahren mit einer “Flutwelle”. Zugleich habe sich der Einfluss von Eltern und Lehrkräften “erheblich reduziert”. Verbote führen nach Einschätzung von Hubermann jedoch “zu nichts, außer zum Beziehungsabbruch”. Wer sein Kind verstehen wolle, müsse vielmehr nachfragen, neugierig sein, sich erklären lassen, was an einem neuen Trend so reizvoll ist oder warum die Schule gerade gar keinen Spaß macht.

Über das Verschweigen von schwierigen Themen komme man nicht weiter, sagt die Autorin von Büchern wie “Leuchtturmeltern” oder “Teenage Blues”. Hilfreich sei vielmehr, eigene Unsicherheiten zu benennen – denn die großen Fragen der Welt ließen sich ohnehin nicht am heimischen Esstisch lösen. “Aber die Sicherheit, die Kinder brauchen, kann man im Kleinen schaffen. Eltern können nicht versprechen, dass es keinen Dritten Weltkrieg geben wird – aber sie können den Alltag mit kleinen Ritualen stabilisieren.”

Dies sei keineswegs selbstverständlich und auch nicht banal, betont Hubermann. “In der Corona-Zeit haben wir mit den Familien oft Tageskalender geschrieben: Wann steht ihr auf, wann frühstückt ihr, wann lernt ihr, wann ist Zeit fürs Spielen?” Genau diese Struktur sei damals vielen Familien verloren gegangen; die Tage hätten sich immer länger angefühlt – und die Welt für junge Menschen entgrenzt.

Zudem rät die Expertin dazu, auch über große Themen im Austausch zu bleiben. “Tatsächlich am Abendbrottisch”, sagt sie: Eltern könnten etwa erzählen, dass sie von einem TikTok-Trend gelesen hätten – und beim Thema bleiben, auch wenn die Kinder schnell abwiegelten, dass sie gefährliche Challenges auf der Plattform ohnehin ignorierten. Auch mit jüngeren Kindern seien Gespräche über Leben und Tod, Glück und Unglück möglich, zum Beispiel mit Bilderbüchern – oder einer eigenen Geschichte. “Als ich so alt war wie du, habe ich mich ganz ähnlich gefühlt – so ein Satz kann ein Kind nachhaltig stärken.”