Jochen Buchsteiner rekonstruiert die Flucht seiner Großmutter aus Ostpreußen im Jahr 1945 – und zeigt, wie persönliche Erinnerungen historische Entwicklungen greifbar machen.
Fast jede deutsche Familie habe Erfahrungen mit Flucht oder Vertreibung gemacht, sagt Jochen Buchsteiner, Autor und Journalist bei der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung”. Oft habe er von Kindern und Enkeln den Satz gehört: “Ich hätte viel mehr fragen müssen.” Er findet: Wir hätten alle mehr fragen und offener sprechen sollen.
In seiner Familie war das anders. Buchsteiner hat Fragen gestellt – immer wieder. Und seine Großmutter, Else Buchsteiner, hat geantwortet. Kurz vor ihrem 90. Geburtstag schrieb sie ihre Erinnerungen auf: über ihre Flucht Anfang 1945 und den Neuanfang im Westen. Aus diesen Aufzeichnungen entstand nun das Buch von Jochen Buchsteiner: “Wir Ostpreußen. Eine ganz gewöhnliche deutsche Familiengeschichte”.
Das Buch bilde zwar in erster Linie die Geschichte und Entwurzelung seiner Familie ab, so der Autor. Doch dahinter zeige sich ein größeres Bild: die Geschichte einer ganzen Region, die heute fast vergessen ist, nämlich Ostpreußen. Für den Autor war Ostpreußen eine einzigartige Kulturlandschaft, die unwiederbringlich verloren ging. Er bedauert, dass sie heute kaum noch jemand kennt.
Ausgangspunkt ist die Flucht seiner Großmutter, die am 26. Januar 1945 begann. Else Buchsteiner, 35 Jahre alt und Witwe seit 1942, sah sich in der Verantwortung, die Menschen auf dem elterlichen Gut Götzlack (heute Krutoi Jar in Russland) in Sicherheit zu bringen. Sie musste in der eisigen Kälte das Gutsdorf evakuieren und die Götzlacker in eine ungewisse Zukunft führen, während hinter ihnen schon die russischen Panzer anrollten.
Als sie gemeinsam loszogen, waren 84 Menschen auf elf voll beladene Wagen verteilt, die von 38 Pferden gezogen wurden. Wenige Tage vorher hatte sie bereits ihre beiden Kinder in den wohl letzten Zug aus Ostpreußen in den Westen gesetzt, damit sie bei Verwandten unterkamen. Was Else Buchsteiner auf der Flucht erlebte, war schrecklich.
Ihr Enkel verweist darauf, dass zur gleichen Zeit, als seine Großmutter versuchte, über das Eis zu kommen, das Massaker von Palmnicken an der Ostseeküste stattfand. Jüdische KZ-Häftlinge wurden auf dem Todesmarsch dort ermordet. Autor Buchsteiner ordnet die Flucht aus Ostpreußen generell in den historischen Gesamtzusammenhang ein. Er bemerkt auch, seine Großmutter sei nicht in der Partei gewesen, habe aber auch keinen Widerstand geleistet.
Die Flucht seiner Großmutter endete in den letzten Junitagen 1945 im hessischen Kohlgrund. Später ließ sie sich dann im nordhessischen Bad Arolsen nieder, wo sie ihre Kinder großzog. Laut ihrem Enkel Jochen Buchsteiner gehörte sie zu den etwa sechs Millionen Deutschen, die es bei Kriegsende aus den Ostgebieten geschafft hatten.
In seiner Familie lebte das untergegangene Ostpreußen in kleinen Alltagsdetails weiter: Wie der Tisch gedeckt wurde, wie Gäste bei Familienfeiern empfangen wurden – all das erinnerte an die Zeit auf dem Gutshof in Ostpreußen.
Buchsteiners gehörten auch zu den sogenannten Heimwehtouristen, die nach dem Fall der Mauer und der Öffnung des Ostblocks noch einmal ihre alte Heimat sehen wollten. Buchsteiners Großmutter hatte Blumen dabei, die sie auf das Grab ihres verstorbenen Mannes legen wollte. Doch sie fanden es nicht wieder.
“Für die meisten Deutschen ist Ostpreußen nicht viel mehr als ein Anklang an die Vergangenheit, ein enigmatisches Echo aus Zeiten, die man lieber zu den Akten legen will”, sagt Buchsteiner. Ostpreußen sei zu einem Phantom geworden. “Kaum jemand hat das Bedürfnis, geschweige denn Freude, darüber zu sprechen.”
Buchsteiner sagt, Ostpreußen sei mehr als rauschende Tannen und wogende Felder im Sonnenschein gewesen. Die Kulturlandschaft habe mit ihrem Zentrum Königsberg sehr lange prägend gewirkt. Buchsteiner stellt fest, dass von der jahrhundertelangen Verbindung Deutschlands mit Ostmitteleuropa wenig geblieben sei. Allerdings beobachtet er, dass Ostpreußen heute wieder in den Fokus rückt – als geopolitischer Ort an der Grenze zwischen NATO und Russland.