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Jesus‘ glühendster Anhänger

Der Schriftsteller Amos Oz zeichnet ein Bild des Judas aus jüdischer Perspektive

Ein Verräter war er nicht. Ganz im Gegenteil: Judas, der seinen Meister Jesus für 30 Silberlinge an die römischen Herrscher und damit an den Tod auslieferte, war dessen glühendster Anhänger. So beschreibt es der jüdische Schriftsteller Amos Oz in seinem Buch „Judas“ und noch einmal in seinem kürzlich erschienenen Essay „Jesus und Judas“.
Die Figur des Judas beschäftigt den 79-jährigen Oz bereits seit seiner Jugend, wie er in dem Essay schildert. Der 16-jährige Amos las gegen den ausdrücklichen Rat seiner Lehrer im Neuen Testament – und verliebte sich in Jesus, „in seine Vision, seine Zärtlichkeit, seinen herrlichen Sinn für Humor, seine Direktheit, in die Tatsache, dass seine Lehren so voller Überraschungen stecken und so voller Poesie sind“.
Die Gestalt des Judas dagegen erschien ihm komplett widersinnig. Wieso sollte jemand dafür bezahlt werden, Jesus auszuliefern – wo der doch seit Tagen in Jerusalem für öffentliches Aufsehen sorgte? Wieso steht diese Geschichte in den Evangelien, wo sie den logischen Verlauf der Handlung eher stört? Erfüllt sie vielleicht eine bestimmte Funktion: nämlich die, den einen, der den Namen eines ganzen Volkes trägt, zum hassenswerten Stellvertreter dieses Volkes zu machen?
Fest steht: Im Verrat des Judas ist das Klischee des verachteten Juden angelegt, wie es seit 2000 Jahren von Antisemiten beschworen wird: „niederträchtig, sündig, böse, teuflisch und dabei insgeheim sehr mächtig“, wie Oz formuliert. Und so ist die Judas-Geschichte zu einer Katastrophe für das jüdische Volk geworden. „In meinen Augen hat keine andere jemals von Menschen erzählte Geschichte ein solches Ausmaß an Hass, Verfolgung und Mord entfesselt“, schreibt Oz.
Aber ist vielleicht eine andere Interpretation möglich als die von Habgier, Hass und Verrat? Oz versucht eine. In dem Roman „Judas“ erzählt er die Geschichte von dem fanatischen Jünger, der Jesus in den Tod drängt – aus der unerschütterlichen Überzeugung heraus, dass Jesus im letzten Augenblick heil und unversehrt vom Kreuz steigen und damit aller Welt seine Überlegenheit beweisen würde. Mehr noch, der als Jünger sein Möglichstes tut, um die Kreuzigung selbst in die Wege zu leiten.
Warum? Weil er stärker an Jesus und seine universelle Liebesbotschaft glaubte als dieser selbst. Und dann, als Jesus stirbt – da erkennt Judas: Er ist schuld an diesem Tod. Er hat den Menschen getötet, den er am meisten liebte – und mit ihm die Hoffnung auf Verwirklichung der Liebesbotschaft. Und da geht er und erhängt sich.

Amos Oz: Jesus und Judas. Ein Zwischenruf. Patmos-Verlag, 98 Seiten, 12 Euro.