Krematorium statt Konzernbüro: Matthias Scharlau hat beruflich umgesattelt. Heute hilft der frühere IT-Manager auch Trauernden durch schwere Stunden. Warum es dabei auch mal einen Schnaps am Sarg geben darf.
Im Mechernicher Krematorium ist an diesem Vormittag viel Leben. Matthias Scharlau hat alle Hände voll zu tun. Ein Bestatter kommt und fragt ihn nach einer wasserlöslichen Aschekapsel für eine Seebestattung. Eine achtköpfige Familie hat sich spontan entschieden, doch bei der Einäscherung ihres Verstorbenen anwesend zu sein und muss nun über das Prozedere informiert werden. Und immer wieder fährt ein Leichenwagen mit Särgen vor, Scharlau packt beim Ausladen routiniert mit an.
Lange war Matthias Scharlau als Manager in der IT-Branche tätig. Mit bald 50 fühlte sich der gelernte Kaufmann dort aber als “alter grauer Mann”, wie er einräumt. Zudem sei ihm die eigene Branche “zu abgehoben und zu seelenlos” geworden, sagt der Zwei-Meter-Mann. Während der Coronazeit wurde ihm klar: “Ich brauche was Bodenständiges” – Zeit für eine berufliche Neuorientierung.
Ein Headhunter machte ihn auf eine Stelle aufmerksam, bei der – offenbar bewusst sehr vage formuliert – ein “bodenständiges Dienstleistungsunternehmen in Mechernich” einen Mitarbeiter suchte. Als Scharlau nachfragte und erfuhr, dass ein Geschäftsführer für das Krematorium Bonn-Rhein-Erft gesucht werde, habe er kurz überlegt, “ob das ein schmutziges Geschäft oder etwas Ehrenrühriges ist”. Bei einer Bestattermesse habe er sich dann “die Branche angeguckt und geschaut, was für Typen da rumlaufen”. Sein Fazit: “viele Handwerker, sehr nett, tatsächlich bodenständig und sympathisch”.
Seit drei Jahren ist er nun Geschäftsführer des privat geführten Krematoriums in der Nordeifel – eine von hierzulande rund 160 Einäscherungsstätten, die sich etwa zur Hälfte in städtischer und privater Hand befinden. Städtische Krematorien versprühten oft den Charme der 1960er Jahre, auch blieben die Angehörigen und deren Bedürfnisse dort meist außen vor, findet der 52-Jährige. Private Anbieter dagegen verfügten wie in Mechernich oft über ansprechendere Räumlichkeiten und auch einen Verabschiedungsraum.
Schließlich wollten die Hinterbliebenen zunehmend in der Nähe sein, wenn der Sarg dem Feuer übergeben werde, beobachtet der Unternehmer. Diesen Moment, wenn aus dem Leichnam langsam Asche wird, empfinden laut Scharlau viele als den eigentlichen Abschied. Denn wenn später in einer Urne die sterblichen Überreste auf dem Friedhof beigesetzt werden, sei das für viele schon zu abstrakt.
Als Dienstleister orientiere er sich an den Bedürfnissen der Hinterbliebenen. Ihm ist es ein Anliegen, dass diese “einen guten Abschied bekommen”, sagt Scharlau. “Wir nehmen uns am Tag der Kremierung bewusst Zeit für jeden Angehörigen und erklären die technischen Abläufe der Einäscherung.” Wenn er dann auch die Lebens- und mitunter Leidensgeschichte des Verstorbenen erfährt, ist er auch mal als Trauerbegleiter gefragt. Besonders hart für ihn und sein 15-köpfiges Team ist es, “wenn Eltern ihre Kinder verlieren und verabschieden müssen – da wird die Luft dünn”.
Pietät und ein würdevoller Umgang mit den Verstorbenen haben für Scharlau oberste Priorität – auch bei 50 Einäscherungen pro Tag, rund 10.000 im Jahr. “Die Würde des Menschen endet nicht mit dem Tod; sie muss bei allen technischen Vorgängen gewahrt werden und gilt auch für die Asche.” Diese habe eine “extrem hohe Bedeutung für die Angehörigen”. Um später Verwechslungen auszuschließen wird deshalb ein mit einer individuellen Nummer versehener, feuerfester Stein gleich nach der Ankunft im Krematorium auf den Sarg geklebt. Dieser kommt dann auch mit in die versiegelte Urne.
Das Interesse an Erdbestattungen nehme immer mehr ab, rund 80 Prozent der Menschen bevorzugten inzwischen eine Einäscherung – auch weil sie Angehörigen nicht zur Last fallen wollten. Immer wieder empfängt Scharlau deshalb interessierte Besuchergruppen, etwa von Hospizen. Auch wenn mal jemand unangemeldet vor der Tür steht, zeige er ihm alles: die Annahme des Sarges mit dem Anbringen des Steins, den Verabschiedungsraum, die sogenannte Einfuhrhalle, wo der Sarg dem Feuer übergeben wird, die drei Brennöfen und das Abfüllen der Asche in die Urne. Trauernde Angehörigen bekommen diese technischen Prozesse nicht zu sehen, “dazu braucht man emotionalen Abstand”.
Am Tag der Einäscherung können sie im Verabschiedungsraum – durch eine Glastür von der Einfuhrhalle getrennt – am aufgebahrten, verschlossenen Sarg noch einmal Abschied nehmen. Sogar in der Halle vor dem Ofen ist dies noch möglich. Dann aber führt Scharlau sie wieder zurück in den Nebenraum. Von dort können die Hinterbliebenen von der Seite verfolgen, wie der Sarg in den Ofen einfährt. “Die Angehörigen sollen nicht sehen, wie der Sarg in Flammen aufgeht – das erzeugt nur ungute Bilder.”
Mitunter wünschen sich Hinterbliebene eine Beisetzung ohne Bestatter und Pfarrer. Dann leitet der ehemalige IT-Fachmann und Katholik auf Wunsch eine kleine nichtkirchliche Trauerzeremonie auf dem benachbarten evangelischen Friedhof; er spricht dort ein paar Worte und liest einen Meditationstext, der zum Erinnern einlädt, oder auch ein Gebet. Sein Krematorium kümmert sich seit über zehn Jahren um die Pflege des Friedhofs und bietet dort auch preiswerte Bestattungen in einem Gemeinschaftsgrab an.
“Jeder trauert anders”, so Scharlaus Erfahrung. Mitunter sei bei seiner Tätigkeit auch Kreativität gefragt. Er erinnert sich an die Angehörigen eines verstorbenen Alkoholikers. Diese wollten nicht, dass dessen trinkfeste Freunde zur Beerdigung auf dem Friedhof erscheinen. “Die Kumpels nahmen schließlich im Krematorium am Sarg Abschied – mit einer Pulle Schnaps.”
Bereut hat Scharlau seinen Branchenwechsel nicht: “Ich bin mit Leib und Seele der Geschäftsführer von einem Krematorium”. Der tägliche Umgang mit dem Tod falle ihm erstaunlich leicht. “Er gehört zum Leben. Den Angehörigen etwas Trost geben zu können, ist eine sehr befriedigende Aufgabe.” Und bei allem Abschied und der Trauer der Hinterbliebenen erlebt er im Krematorium auch immer wieder Momente, in denen ihm das Herz aufgeht.
Er erinnert sich an eine Familie, die im Oldtimer des verstorbenen Vaters zur Kremierung vorgefahren sei. “Im Anschluss nahmen sie die Urne, schnallten sie auf dem Beifahrersitz fest und sind mit ihm noch eine letzte Runde durch die Eifel gefahren – die haben es verstanden!”