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Israels Bevölkerung im Krieg – Zwischen Aufräumen und Abwarten

Einige der als Vergeltung aus dem Iran abgefeuerten Raketen hat das israelische Abwehrsystem nicht aufhalten können. Betroffene stehen vor den Trümmern ihrer Existenz. Doch es könnte noch schlimmer kommen.

Im Krieg mit dem Iran hat Israel die ersten Stunden des Aufräumens hinter sich. Seit Freitagabend explodierten laut der israelischen Armee etwa zehn iranische Raketen in bevölkerungsreichen Gebieten und verursachten nicht nur massive Gebäudeschäden. Drei Menschen wurden getötet, die sich nicht in geschützten Räumen aufhielten. Die Disziplin der Mehrheit und das effektive Raketenabwehrsystem mit einer Abfangquote von mehr als 90 Prozent verhinderten, dass es noch mehr Tote gab.

Der Samstag ist geprägt von der Suche nach ein bisschen Normalität – und der Sorge vor der nächsten Nacht. Schaulustige versammeln sich an der Tel Aviver Kaplan-Straße am Regierungsviertel, wo auch das Militärhauptquartier liegt. In der Nacht traf dort eine Rakete ein Hochhaus und beschädigte es über mehrere Stockwerke. Immer wieder halten Autos, versuchen Passanten, den Einschlag mit ihren Handys einzufangen. Das beliebte Ausgehviertel Sarona an der Straßenseite gegenüber ist indes fast leer – wie viele der sonst staugeplagten Straßen.

Weiter im Stadtzentrum am historischen Dizengoffplatz zeigt sich ein anderes Bild. In den wenigen Cafés, die geöffnet sind, stehen Menschen Schlange für einen Kaffee, einen Sitzplatz und ein wenig Alltagsstimmung, aus der sie durch den Schlagabtausch zwischen Iran und Israel abrupt gerissen wurden. “Es ist die Realität, in die wir in Israel hineingeboren werden”, sagt ein junger Mann am Cafétisch achselzuckend. “Normal ist das nicht”, kontert seine Partnerin. Bei einem Eiskaffee diskutieren sie über die neuen Warnmechanismen des Heimatfrontkommandos. Für Samstagnacht geht man von weiteren Raketensalven aus dem Iran aus.

Zwölf Kilometer südlich in Rischon LeZion stehen Bewohner und Angehörige vor den Trümmern ihrer Existenz. Eine Rakete traf am frühen Morgen ein Wohnviertel und legte mehrere Gebäude in Schutt. Das Frühwarnsystem hatte versagt, ein technischer Fehler, wie später bekannt wurde. Erst die Sirenen alarmierten die Bewohner. Zwei von ihnen starben, weil sie sich im Freien aufhielten.

Noams Familie hatte Glück im Unglück. “Zum ersten Mal in seinem Leben hat mein Großvater auf uns gehört, und wir sind in den Schutzraum gegangen, statt im Treppenhaus Schutz zu suchen”, erzählt der 23-Jährige. Eine Entscheidung, die ihnen mutmaßlich das Leben rettete: Von dem Haus ragt nur noch ein Gerippe in den wolkenlosen Junihimmel. “40 Jahre Familiengeschichte sind auf einen Schlag verschwunden”, sagt Noam vor den Trümmern des Gebäudes, das auch sein Elternhaus war. Ein Pappkarton enthält verbliebene Erinnerungsstücke: Elefanten, geschnitzt aus exotischen Hölzern, ein Spielzeug-Torero, der silberne Chanukka-Leuchter.

Den geretteten Gobelin werde er in seiner Wohnung aufhängen, sagt Noam. Die barocke Gartenszene im vergoldeten Rahmen und das Lächeln des jungen Mannes wirken surreal inmitten der Zerstörung. “Ich versuche, es mit Humor zu nehmen, anders ist es nicht auszuhalten”, erklärt er. Andere Familienmitglieder können die Tränen über Schock und Verlust nicht zurückhalten.

Eine Seitenstraße weiter steht ein Mann, in der einen Hand einen bauschuttverstaubten Koffer, in der anderen eine Tupperdose. “Um ein Uhr morgens, nach dem ersten Alarm, bin ich in die Küche gegangen und habe Kuchen gebacken, für Schabbat”, sagt Eldad. Aus dem Gedächtnis zitiert er das Rezept für das Pudding-Ahornsirup-Gebäck, das er jetzt an Sicherheitskräfte, Versicherungsgutachter und Passanten verteilt. “Als gegen fünf Uhr die Sirenen losgingen, bin ich in Unterhosen in den Schutzraum gelaufen. Die Druckwelle der Explosion hat mich in den Raum geworfen.” Nachbarn mussten ihn aus den Schuttteilen retten. Bis auf ein paar Kratzer habe er körperlich keine Schäden davongetragen. “Im Krankenhaus haben sie mir nach der Untersuchung gesagt, ich könne nach Hause gehen”, berichtet Eldad weiter. “Nur dass das Haus nicht mehr steht.”

Ein anderer Anwohner spritzt mit dem Gartenschlauch seine staubbedeckten Autos sauber. Vielleicht ein Versuch, Kontrolle über den Alltag zurückzugewinnen. Aber für die nächste Nacht werden neue Raketenwellen erwartet. Der israelische Katastrophenschutz stimmt die Menschen darauf ein, dass es noch schlimmer werden könnte.