Tim kann wegen seiner Krankheit nicht in die Schule gehen. Ein Avatar hilft ihm, trotzdem im Klassenzimmer dabei zu sein. Ein grünes Leuchten steht für eine neue Form von Nähe – und erhält Freundschaften.
In der Klasse steht ein Avatar auf dem Tisch. Er trägt keine Schultasche, aber doch Tim Wischnewskis Stimme. Der Roboter leuchtet auf, und Augen werden auf seinem Bildschirm sichtbar, wenn sich der Achtklässler in den Unterricht einwählt. Der Roboter übernimmt für Tim die physische Anwesenheit, weil der Junge nicht selbst vor Ort sein kann – Ursache: Knochenkrebs.
Stattdessen nimmt Tim den Unterricht durch die Augen eines Telepräsenzroboters der Firma “No Isolation” wahr. An seinem Tablet kann der 14-Jährige die gesamte Klasse im Blick behalten. Der Avatar dreht sich auf dem Tisch, wenn Tim nicht nur die Lehrkraft, sondern auch den Klassenkameraden hinter sich sehen möchte. Durch das Mikrofon kann er sich aktiv am Unterricht beteiligen.
Doch oft fehlt Tim die Kraft – die Bestrahlung an Beinen und Lymphknoten zehrt, macht ihn müde und verursacht Bauchschmerzen. Mit einem Klick auf sein Tablet leuchtet der Kopf des Avatars an diesen Tagen blau. Dann wissen alle Bescheid: Tim ist heute geschlaucht von seiner Therapie. Möchte er doch etwas sagen, wechselt der Avatar seine Farbe – durch Tims Klick – zu Grün: Tim meldet sich.
Jochen Lange forscht an der Universität Siegen zu diesem Phänomen. Ihn interessiert, inwiefern Technologie einen Beitrag leisten kann, um die Abwesenheit einer Person in Teilen zu ersetzen – und wie Menschen durch materielle Hürden miteinander kommunizieren. “Wir konnten jetzt schon rührende Akte der pflegerischen Tätigkeit bei den Schülerinnen und Schülern beobachten”, sagt er. Da würden etwa die abwesenden Schüler gefragt, ob man sie – also vielmehr den Avatar – anfassen oder hochheben dürfe.
Tim macht ähnliche Erfahrungen: “Ich glaube, es ist für meine Mitschüler gewöhnungsbedürftiger als für mich.” Er ist nicht nur in den Unterrichtsstunden dabei. Auch in den Pausen binden Mitschüler den Avatar in Gespräche ein. Dann genießt Tim es, sich mit mehreren Freunden gleichzeitig unterhalten zu können. Denn seit seiner Diagnose darf er nur zwei bis drei Freunde physisch treffen, mit den anderen hält er online Kontakt. Trotz allem sagt der Junge: “Ich mache mir generell nicht so viele Sorgen um Einsamkeit.”
Die soziale Teilhabe sei das Hauptziel beim Einsatz der Avatare, sagen Marko Schaffner und Sandra Engel, stellvertretender Schulleiter und Lehrkraft an der Heinrich-Hoffmann-Schule in Frankfurt. An dieser Förderschule für kranke Schülerinnen und Schüler werden Kinder und Jugendliche unterrichtet, die wegen einer langanhaltenden Erkrankung nicht auf ihre Stammschule gehen können – wie auch Tim. Schaffner und Engel haben sich für ihn um den Avatar gekümmert.
“Für die meisten Schülerinnen und Schüler ist es wichtig, den Anschluss an den Schulstoff zu halten”, sagt Schaffner. Doch bedeutender sei oft etwas anderes: “Wenn sie die Neben- und Nachwirkungen ihrer Therapie gut verkraften, dann ist das für sie die Chance, an ihrem Lebensalltag teilzunehmen.” Wie sehr sich viele danach sehnen, zeigt ein besonderes Beispiel: Eine Klasse habe sogar überlegt, den Avatar mit auf Klassenfahrt zu nehmen.
Das Angebot gibt es an dieser Schule seit gut fünf Jahren. Die Anschaffungskosten bezahlte in diesem Fall der Verein “Hilfe für krebskranke Kinder Frankfurt”; für die laufenden Kosten kommt die Stadt Frankfurt auf. In anderen Städten gibt es auch Medienzentren, in denen Schulen sich bei Bedarf einen Avatar ausleihen können.
Die Avatare werden nur eingesetzt, wenn die Schüler für mehrere Monate nicht am Unterricht teilnehmen können, wie etwa bei Krebserkrankungen. Die Nutzung ist für Betroffene freiwillig – wer neben der Behandlung keine Kraft für den Unterricht hat, muss das Angebot nicht annehmen. Dennoch gibt es auch Bedenken, etwa, was den Datenschutz betrifft: Eine Schulklasse im Stuttgarter Raum lehnte die Möglichkeit daher unlängst ab.
Die beiden Lehrkräfte haben die Erfahrung gemacht, dass Schüler gerade bei schwerwiegenden Erkrankungen anfangen, die Schule besonders zu schätzen. Schaffners Lieblingsgeschichte handelt von einem Schüler, der mit den Ärzten die Vereinbarung getroffen habe, dass er morgens als Erster entlassen wird, damit er sich rechtzeitig zu Hause einwählen und am Unterricht teilnehmen kann.
Tim hat den Unterricht schon immer geschätzt, wie er sagt. Seit einem Jahr kann er aber schon nicht mehr hingehen. Gerade hat er die letzte Bestrahlung hinter sich; zuletzt hatte er vor allem Unterricht im Krankenhaus. Den Avatar nutzt er erst seit anderthalb Monaten. In einem Monat sind in Hessen schon Sommerferien. Danach darf er endlich wieder persönlich zwischen seinen Freunden sitzen.