Von Monika Herrmann
Herr Fischer, Sie kamen 1975 als junger Pfarrer in den Wedding in ein Pfarrhaus mit direktem Blick auf die Mauer. Warum gerade zur Versöhnungsgemeinde?Für diese Gemeinde habe ich mich bewusst entschieden. Ein Grund: die Extremsituation. Die Mauer schnitt die Gemeinde vom Zentrum ab. Kirche und Stadtteilarbeit kamen hier zusammen. Die alten Häuser mit den Kriegsschäden wurden abgerissen, die Menschen umgesiedelt. Wir nannten das Kahlschlagsanierung. Der Abrisswahnsinn war schon eine riesige Herausforderung für die Gemeinde und ihren Pfarrer.Welche Kirchlichkeit fanden Sie vor? Eher den frommen Protestantismus, oder war die Gemeinde links-politisch orientiert auf Grund der Verhältnisse?Eher konservativ. Jedenfalls der Kern der Gemeinde. Aber wir waren immer auch umgeben von anderen, die durchaus politisch-bürgerschaftlich mitmischten, auch im Gemeindekirchenrat. Die offene Jugendarbeit war damals ein heißes Thema. Unser Gemeindehaus war offen für Bürgerinitiativen, also das soziale Engagement hatte im Stadtteil einen großen Stellenwert.Alles im Schatten der Mauer. Das ging doch an der Gemeinde nicht so einfach vorbei, oder?Die Folgen der Teilung spürte ja auch die Westseite. Und es gab hier keine Menschen mehr, die über die Mauer winkten. Die Leute in Ost und West wohnten längst in anderen Stadtteilen. Ich war Pfarrer auf der Westseite. Meine Aufgabe war, die Gemeinde im Westen zusammenzuhalten in diesen schwierigen Zeiten. Das gesamte Viertel war Sanierungsgebiet. Auch die Mauer wurde ständig um- und ausgebaut. Wir haben mit diesen Tatsachen leben müssen. Das war Normalität.Auch die alte Versöhnungskirche auf Ost-Berliner Seite der Mauer wurde 1985 gesprengt. Wir hatten keinen Einfluss darauf. Das SED-Regime machte, was es wollte. Aber: Wir fanden es nicht normal, dass in diesem Todesstreifen eine Kirche stand, die nicht genutzt wurde. Ein Abriss drohte der Kirche all die Jahre, weil ja alles abgerissen wurde an der Mauer. Wie haben Sie persönlich die Sprengung erlebt?Ich war an diesem 22. Januar 1985 in den USA und sah im Fernsehen, was passiert war. Das Ereignis war für uns zwar kein praktischer Einschnitt im Gemeindeleben, aber die Kirche hatte eine tiefe symbolische Bedeutung. Eine Art Anker war jetzt weg, die Hoffnung, eines Tages vielleicht in dieser Kirche wieder Gottesdienst zu feiern. Hat Sie diese Erfahrung bestärkt, sich nach 1989 für den Erhalt dieses Mauerabschnitts einzusetzen? Ein Engagement gegen das Vergessen?Auf jeden Fall. Die Mauer sollte ja spurlos verschwinden. Eine Erfahrung aus der Zeit der Sanierung des Viertels hatte mich geprägt: Spuren sind für die Orientierung wichtig. Ich wollte deshalb Relikte der Mauer als Denkmal erhalten, damit die Geschichte auch von späteren Generationen noch begriffen werden kann. Das hat was mit anfassen zu tun. Ich habe mich gefragt, wie erzählt ein Pfarrer der Gemeinde ohne diese Spuren die Geschichte. Ihnen ging es immer auch um die Opfer, also die vielen Menschen, die an dieser Mauer erschossen wurden.Richtig. Denn man kann nicht sagen: Jetzt ist die Mauer weg, jetzt ist alles gut. Die alten Nazis haben nach 1945 auch gesagt: Ach, das war alles ganz anders. Ich wollte mit meinem Engagement Belegstücke retten, damit die Geschichte nicht wieder verfälscht wird. Ich wollte die Gedenkstätte an dieser Stelle und dafür habe ich als Pfarrer zusammen mit anderen gekämpft. Wer hat Sie all die Jahre unterstützt?Vor der Wiedervereinigung das Deutsche Historische Museum und der Ost-Berliner Denkmalschutz. Sogar der Volkspolizist an der Mauer hat sich für deren Erhaltung an dieser Bernauer Straße ausgesprochen. Dann natürlich Politiker in Stadt und Land, die eingesehen haben, dass dieses Stück erhalten werden muss. Zu Ihrem Engagement gehört auch der Bau der Kapelle im ehemaligen Todesstreifen. Ich hatte immer gesagt: Wir haben eigentlich zu viele Kirchen zu unterhalten. Deshalb fragten einige schon: Was macht der da eigentlich? Aber ich hatte eine Mehrheit im Gemeindekirchenrat. Klar, manche waren dagegen. Es gab Konflikte und es war ja eigentlich kein Geld dafür vorhanden. Wir haben die Kapelle dann mit knappen Eigenmitteln und Spenden finanziert. Das Gemeindehaus haben wir teilweise aufgegeben, es wurde zum Dokumentationszentrum. Die Kapelle der Versöhnung ist nun die neue Kirche der Gemeinde. Aber nicht nur.Sie gehört auch zur Gedenkstätte. Es finden Andachten dort statt, in denen der Mauertoten gedacht wird. Wir treffen hier Menschen, die aus aller Welt kommen, die die Gedenkstätte, das Museum und eben auch die Kapelle besuchen. Ehrenamtliche aus der Gemeinde empfangen die Besucher und leiten die Andachten.
Manfred Fischer wurde 1948 in Frankfurt am Main geboren. Er studierte am damaligen West-Berliner Praktisch-Theologischen Ausbildungsseminar Theologie. In der Martin-Luther-Gemeinde in Berlin-Steglitz arbeitete er als Vikar. Seit 1975 ist er Pfarrer in der Versöhnungsgemeinde in Wedding. Fischer betrieb nach dem Fall der Mauer federführend die Errichtung einer Gedenkstätte zur Erinnerung an die Teilung Berlins und zum Gedenken an die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft an der Bernauer Straße. Er setzte sich ein für die Einrichtung eines Dokumentationszentrums und für den Bau der Kapelle der Versöhnung im ehemaligen Todesstreifen. Seit 2008 ist er Mitglied des Stiftungsrates Berliner Mauer. In den vergangenen Jahren hat er neben seinem Pfarramt den Ausbau der Gedenkstätte mit entwickelt und Veranstaltungen, Diskussionen und politische Auseinandersetzungen dort ermöglicht.