“Hot Milk” ist eine Romanverfilmung über eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, in der es um Abhängigkeit, Kontrolle und verdrängte Traumata geht.
Nichts ist, wie es scheint. Der Baum am Strand ist eine Attrappe. Unter der Baumrinde verbirgt sich hartes Metall, wohl das Relikt eines Filmdrehs. Gut möglich ist auch, dass hinter dem undurchsichtigen Heiler Dr. Gómez (Vincent Perez) in Wahrheit ein Scharlatan steckt. Und dann das: “Beloved”, der in geschwungenen Buchstaben auf ein Oberteil gestickte Schriftzug, entpuppt sich beim näheren Hinsehen als “Beheaded” – geköpft.
In “Hot Milk” von Rebecca Lenkiewicz, Verfilmung des gleichnamigen Romans von Deborah Levy, liegen die Dinge von Anfang an im Ungewissen und Doppeldeutigen. Das größte Rätsel aber ist das Leiden von Sofias Mutter Rose (Fiona Shaw). Seit mehr als 20 Jahren ist sie vom Knie abwärts gelähmt und mit unaufhörlichen Schmerzen geplagt. Doch ist ihre Krankheit tatsächlich physischer Natur? Oder womöglich eine Waffe, um Sofia (Emma Mackey) an sich zu binden?
Die Tochter eines griechischen Vaters, der die Familie früh verlassen hat, ist im Leben der Kranken fest eingeplant; sie wird herumkommandiert und schikaniert. Rose lässt keine Gelegenheit aus, Sofia kleinzureden: ewige Studentin der Anthropologie, gleich vier Mal durch die Führerscheinprüfung gefallen, immer ängstlich und verzagt.
Dr. Gómez gilt als Koryphäe. Rose reist deshalb in Begleitung von Sofia in die vor sommerlicher Hitze flirrende südspanische Küstenstadt Almería, um sich bei dem mutmaßlichen Heiler in Therapie zu begeben. In dem stickigen Bungalow, in den sich Mutter und Tochter eingemietet haben, braut sich etwas zusammen. Der Nachbarhund kläfft, die Klimaanlage ist kaputt, das Wasser schmeckt nicht, die Beine schmerzen. Wenn Sofia einmal allein am Strand unterwegs ist, klingelt unentwegt das Telefon. Roses stapfender Gang signalisiert maximale Genervtheit.
“Hot Milk” kreist um schwere “Mommy Issues”, wie das einleitende Zitat von Louise Bourgeois bereits ankündigt. Die zentrale Arbeit der Künstlerin ist eine über neun Meter hohe Spinne mit dem Titel “Maman”. Auch Sofia ist im Netz der Mutter gefangen, bis die mysteriöse Ingrid (Vicky Krieps) Bewegung in die Beziehungsdynamik bringt. Sofia verguckt sich buchstäblich in die hippieske Deutsche, deren erster, amazonenhafter Auftritt zu Pferd auch einem Fiebertraum entsprungen sein könnte. Ingrid gibt sich ungebunden. Sie hat eine Affäre mit einem Musiker, der für Rose Fahrdienste in die Klinik macht, und auch mit dem Reitlehrer. Das ist quälend für Sofia, mit der sie gleichzeitig ein Verhältnis beginnt.
Lenkiewicz, die bisher als Drehbuchautorin tätig war, unter anderem bei “Ida” und “She Said”, hat sich für ihr Regiedebüt kompetentes Fachpersonal gesucht. Etwa den Kameramann Christopher Blauvelt. Doch der setzt die Schauplätze – steinige Strände, hässliche Bebauungen und Industrieruinen – erstaunlich uninteressant in Szene. Der Editor Mark Towns signalisiert mit seiner auf kurze Momentaufnahmen und schnelle Szenenwechsel getrimmten Montage – mit Ausrufungszeichen – Psychostress.
“Hot Milk” leidet an aufdringlicher Symbolik und Andeutungseifer. Etwa wenn Sofia von Albträumen heimgesucht wird, in denen sie an den Rollstuhl gefesselt im Meer versinkt. Gleichermaßen bedeutungsheischend wie sinnentleert wirken die ethnografischen Filmschnipsel von balinesischen Trance-Tänzerinnen, die wiederholt über Sofias Bildschirm flimmern und mit ihrer nicht fertig werdenden Arbeit über die Anthropologin Margaret Mead in Zusammenhang stehen.
Die inszenatorische Einfallslosigkeit macht sich aber vor allem in den soapigen Szenen zwischen Sofia und Ingrid bemerkbar. Die hat auch ihr posttraumatisches Päckchen zu tragen und erweist sich als bedürftiger als zunächst angenommen. Umso dankbarer ist man für Roses galligen Humor. Ihre verbitterten, giftigen Attacken haben ein Maß an Würde.