„Höre, Israel, die Gebote und Rechte, die ich heute vor euren Ohren rede, und lernt sie und bewahrt sie, dass ihr danach tut!“, heißt es im 5. Buch Mose. Das „Höre, Israel“– „Schemaj Israel“ – beschreibt, was einen echten Lernprozess ausmacht: hört, lernt, bewahrt, tut. So spricht auch Mose zu ganz Israel, bevor er die Zehn Gebote in Erinnerung ruft – jene Gebote, die Juden und Christen bis heute Grundregeln des Zusammenlebens bieten.
Nicht das Lernen steht an erster Stelle, sondern das Hören und Vertrauen auf Gottes heilbringendes Wort. Allem menschlichen Verstehen, so die grundlegende Botschaft, geht Gottes Reden und Handeln am Menschen voraus. Echtes hörendes Verstehen bedeutet: nicht nur auswendig lernen, sondern begierig aufsaugen. Derartig Gelerntes vergisst man nie wieder, es geht „in Fleisch und Blut“ über und zwingt förmlich dazu, entsprechend zu handeln.
Was sollen die Menschen Israels lernen? Was erkennen? Die Antwort ist so kurz wie komplex: Gott und die Welt. Gott offenbart sich in der Welt, in seiner Schöpfung. Alle Freude über die Schönheit der Welt – über einen sonnigen Tag, über die ersten Krokusse – darf nicht zur Anbetung der geschaffenen Natur führen, sondern muss im Lobpreis des Schöpfers münden. Derartiges Verstehen ist der lebenslange Versuch, eine – wenn auch noch so unvollständige – Erkenntnis Gottes zu gewinnen.
Dass dies nur bruchstückhaft, oftmals gar nicht gelingen kann, thematisiert das Hiobbuch. Hiob erlebt einen ungerechten, willkürlichen Gott, der sich nicht bestechen lässt durch gute Taten und fromme Worte, sondern vollkommen frei handelt. So sehr Hiob an seinem Gott verzweifelt, kann er doch nicht anders: Er hofft wider alle Vernunft. Er will mit Gott sprechen, will die Gründe für sein Unglück erfahren. Und er bekommt tatsächlich Antworten. Gott rechtfertigt sich nicht für Hiobs Leid, aber er bietet Hiob einen Perspektivwechsel. Er lässt ihn die Welt mit seinen, mit Gottes Augen sehen. In dieser Welt haben alle ihren Platz: wilde Tiere wie Krokodile ebenso wie Menschen. Schreckliches gehört genauso dazu wie Wunderschönes. All dies auch nur im Geringsten zu verstehen, ist für einen einzelnen Menschen unmöglich. Hiob bleibt nur die Anbetung Gottes.
Dann wird Gott selbst Mensch. In seinem Sohn Jesus Christus lebt der Allmächtige, der so oft als unnahbar Erfahrene, mitten in der Welt, erlebt menschliche Freuden und tiefstes Leid. Von seinen Jüngern wird Jesus „Rabbi“ genannt, Lehrer. Die erste Gemeinde ist eine Hör- und Lerngemeinschaft.
Wieder steht die Ansprache durch Gott selbst am Anfang jeder Bekehrung. Jesus beruft seine Jünger. Sie gehen ein lebenslanges Lehrer-Schüler-Verhältnis ein. Jesus als Rabbi spricht Körper und Geist an. Die Jünger gehen mit Jesus, wundern sich, fragen nach. Was sie sehen und hören, verändert ihr gesamtes Leben. Sie sehen nun die Welt mit Gottes Augen.
„Hört ihr Christen“ könnten folgende Zeilen am Ende des Matthäus-Evangeliums auch überschrieben sein: „Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe.“ Es ist ein Missions-, Tauf- und Lehrbefehl, der in der Zusage Jesu Christi mündet: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Solches Lernen fußt im göttlichen, unverfügbaren Geschenk des Glaubens.
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Gott suchen lebenslang
Nicht pauken, sondern vertrauen, diese Lektion gab Gott seinem Volk Israel mit. Und Israel lernte, dass es darauf ankommt, die Welt mit den Augen seines Schöpfers zu sehen

Heike Lyding