Regentropfen glitzern. Der Morgennebel hebt sich, die ersten Sonnenstrahlen tasten sich durch den Wald. Wie von allein wandert der Blick zu den Baumstämmen, klettert an ihnen empor. Dort oben, zwischen den Baumkronen, funkelt der Himmel.
Wer eine halbwegs empfindsame Seele besitzt, dem geht bei solch einem Anblick das Herz auf. Fast automatisch wird man in diesem Augenblick Ehrfurcht spüren: vor Gott, dem Schöpfer dieser grandiosen Natur.
Mein Gemeindepfarrer aus früheren Tagen würde jetzt warnen: Gott findet man nicht in der Natur. Sondern im Gottesdienst.
Das muss man verstehen. Der Pfarrer wollte seine Kirche füllen (was ihm auch gelang), da sollten die Leute nicht am Sonntagmorgen im Wald herumlaufen. Vor allem aber lag ihm daran, Gottes Wort, die frohe Botschaft zu verkünden. Ein Hochgefühl in Berg und Wald, in Strom und Feld statt einer klaren Predigt – das war ihm zu nebulös, zu sehr frei schwebende Religiosität.
Zu Recht. Wohin religiöse, ungebundene Schwärmerei führen kann, das zeigt ein Blick in die Kirchengeschichte. Verirrungen, Verwirrungen, Abspaltungen und Grüppchenbildung. Noch heute kommt man aus dem Staunen nicht heraus, wenn man sieht, wie sich Menschen aus Patchwork-Religion und Esoterik ihre Individual-Konfessionen zusammenschustern. Es bedarf des Wortes, um Klarheit zu schaffen.
Und doch: Warum sollte Gott uns nicht auch in der Natur begegnen? Unzählige Dichter haben das beschrieben und besungen. Etwa ein Joseph von Eichendorff, ein guter Katholik, für den die ganze Natur ein Blickfenster in die Welt auf der anderen Seite war. Maler wie der Protestant Caspar David Friedrich haben auf Leinwand festzuhalten versucht, wie sehr die Natur zu predigen vermag.
Schon der eigene Garten kann als Sinnbild für Gottes Wirken dienen. Wachsen und gedeihen, aufblühen und Vergehen. All das kann der Garten wie ein eigener, kleiner Kosmos vermitteln (Seite 12). Der Mensch strengt sich an, er pflanzt und sät, hegt und pflegt – der Erfolg liegt nicht in seiner Hand. Wer in der Lage ist, das zu sehen, der lernt Demut.
Natürlich: Um Gott zu verstehen, bleibt das Wort unverzichtbar. Der Mensch ist auf Sprache angewiesen, um Inhalte zu erfassen. Der Anblick, das Erleben kann Freude vermitteln. Aber erst das Wort führt die Freude zu ihrem Grund. Es sagt, vor wem wir Ehrfurcht haben, worüber wir staunen, wenn wir Wälder, Berge, Sterne, Meer und See sehen. Die Predigt der Natur kann überwältigen. Aber sie bleibt ein Raunen. Sie setzt den Menschen auf die Spur. Um zum Ziel zu gelangen, braucht er weitere Wegweisung. Die gibt das Wort.
Gott kann auf vielerlei Art begegnen. In der Musik. In der bildenden Kunst. Im Mitmenschen. In der Wissenschaft. Und auch in der Natur. Predigt und Waldspaziergang müssen keine Gegensätze sein, sondern können einander wunderbar ergänzen. Es muss ja nicht beides zum selben Zeitpunkt geschehen.