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Gott am Tiefpunkt

Über den Predigttext am Sonntag Judika: Hebräer 5,7–9

Predigttext
7 Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte; und er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. 8 So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. 9 Und als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden.

Entschuldigen Sie“, sagt die Frau, die mitten im Gespräch anfängt zu weinen. Sie greift nach ihrem Taschentuch und putzt sich eilig die Nase. „Ich wollte eigentlich nicht weinen.“
Wenn mitten in einem Gespräch Tränen nach außen drängen, empfinden das viele als einen außerplanmäßigen Ausrutscher. Sie fragen sich dann: „Wie schwach stehe ich denn da, dass ich öffentlich, vor anderen Menschen, die Kontrolle über mich verliere?“ „Also bitte, entschuldigt doch, gleich schon werde ich meine Fassung wieder haben!“

Die düsteren Tage im Leben Jesu

Unser Bibeltext aus dem Hebräerbrief zeigt uns den Menschen Jesus „in den Tagen seines irdischen Lebens“. Es ist ein Text für die Passionszeit. Er beleuchtet die düsteren Tage des Lebens Jesu. Es werden zwar nicht bestimmte Stationen seines Lebens ausdrücklich beschrieben, wie zum Beispiel die Szene im dunklen Garten Gethsemane oder das Leiden am Kreuz. Wir dürfen sie uns aber als Hintergrund des Textes vorstellen.
Tätigkeiten Jesu, die er an seinem Tiefpunkt vollzieht, werden nur knapp benannt. Es sind derer vier: Bitten, Flehen, lautes Schreinen, Tränen fließen lassen. Das Leid, das Jesus widerfährt, scheint immer intensiver zu werden. Er bringt es vor Gott. Die Antwort Gottes allerdings scheint das Leiden nicht abzumildern. Ganz im Gegenteil: Es wird immer noch größer!
Wenn wir die vier Tätigkeiten Jesu als Stufen begreifen, dann hätte es so sein können, dass nach der ersten Stufe schon ein Ende absehbar gewesen wäre. So war es aber nicht. Auf das Bitten folgt das eindringliche Flehen, dann erfolgt der Krach durch das Schreien, der die Stimme Jesu und den Gehörgang Gottes strapaziert. Am Ende steht das verzweifelte Weinen: Das Verhandeln und das Kämpfen lohnen sich jetzt nicht mehr. Das Spiel ist aus. Verloren.
Wir kennen diese Stufen größer werdenden Leids aus vielen Bereichen. Anfangs regt sich noch der Widerstand, der Protest, hinterher bricht die Wand, gegen die man sich einst stemmte, über einem zusammen. Bei der Arbeit. In der Krankheit. Beim Abschiednehmen.
Jesus leidet. Wir leiden. Doch jetzt fällt plötzlich ein Licht in diese düstere Leidenswelt. Die kranke Geschichte nimmt eine Wende. Denn es ist Gottes Sohn, der dies alles durchlebt! Gottes Sohn, das ist Gottes eigenes Fleisch und Blut. Gottes Sohn, das ist Gott selbst!
Und nun wird noch einmal durchgespielt, dass die ganze Geschichte auch anders hätte laufen können: Obwohl er Gottes Sohn war, nahm er dies alles auf sich (Vers 8). Er hätte es doch so schön haben können, wäre er nur nicht Mensch geworden! Doch genau dies war nicht seine Bestimmung, nicht sein Weg.
Gott begegnet uns Menschen nicht von oben herab, sondern er erwählt ganz bewusst die Tiefe. Dies ist der Ort, an dem das Leid am schmerzvollsten ist und die Schreie am lautesten tönen.

Schritt für Schritt der Vollendung entgegen

Wir schämen uns manchmal für unsere Tränen. Ganz anders ist das bei Gott: Seine Tränen sollen sein! Ja, sie gehören zu ihm, weil er Gott ist.
Als die Tränen Jesu ausgeweint waren, führten sie ihn weiter auf seinem Weg zur Vollendung (Vers 9). Nach den Tränen fühlen wir uns oft leichter als vor den Tränen. Diese Leichtigkeit ist erst der Anfang eines wundervollen neuen Weges, den Gott mit uns gehen will. Schritt für Schritt, Träne für Träne, werden wir der Vollendung entgegengeführt.
Niemand kann uns sagen, wie weit sich unsere Täler der Tränen dehnen. Manchmal denken wir: kein Ende in Sicht. Doch wir dürfen von der Bibel her wissen und glauben: Gott nimmt uns ernst, genau dort, wo wir jetzt stehen! Es ist für uns ein Trost, vom Hebräerbrief her zu erkennen: Gott möchte nicht, dass wir mit schweren Beinen stehen bleiben. Er führt uns ins Weite!