Das Festival in Cannes geht politisch zu Ende. Die Jury zeichnet den iranischen Film “Un simple accident” von Jafar Panahi mit der “Goldenen Palme” aus. Auch der deutsche Beitrag “In die Sonne schauen” wurde geehrt.
Für viele Filmschaffende ist Cannes schlicht die “Kathedrale des Kinos”. Bei der feierlichen Preisverleihung zum Abschluss des 78. Filmfestivals in der Mittelmeerstadt am Samstag war dieser Lobpreis gleich mehrfach zu hören. Das galt primär sicher nicht dem lichten Palais an der Côte d’Azur, sondern vor allem der Institution “Cannes” als einem Hort wahrer Filmkunst, in dem es für alle Formen des Kinos viel Platz und noch mehr Wertschätzung gibt.
Daran orientierte sich auch die diesjährige Jury unter Vorsitz von Juliette Binoche, die auf den qualitativ überzeugenden, mit vielen spannenden Filmen bestückten Wettbewerb mit einer nicht minder ausgewogenen Preisvergabe antwortete. Schon der Spezialpreis für den jungen chinesischen Regisseur Bi Gan und sein experimentelles Werk “Resurrection” ließ aufhorchen, weil er dessen Mut zu einer fantastischen Traumreise durch unterschiedliche Zustände und Bilderwelten belohnte. In sechs überbordenden Kapiteln jagt der überschäumende Film durch das 20. Jahrhundert, mit einem sich stetig verwandelnden Protagonisten, der als eine Art Traumtänzer auf schwankendem Seil über ein unendliches Reich der Möglichkeiten balanciert.
Dazu passten die ex aequo vergebenen Jurypreise für den deutschen Beitrag “In die Sonne schauen” von Mascha Schilinski und “Sirat” von Óliver Laxe; zwei extrem formbetonte, herausfordernde Werke, die mit ungewöhnlichen filmischen Mitteln von außergewöhnlichen Erfahrungen erzählen. Bei Schilinski geht es in einem weiten Bogen von der Weimarer Zwischenkriegszeit bis in die Gegenwart um verhängnisvolle Unglücke, bei Laxe um die Suche nach einer verschwundenen Tochter, die quer durch Marokko bis ins Atlasgebirge führt.
Eher an klassische Formen und Meister wie Bergman oder Cassavetes schlossen die Preise für “Sentimental value” von Joachim Trier (Großer Preis) über eine norwegische Familie und “The Secret Agent” von Kleber Mendonça Filho (Beste Regie) an, der in den späten 1970er-Jahren in Nordosten Brasiliens spielt. Das konzentrierte Drama von Joachim Trier kreist mit außergewöhnlichen darstellerischen Leistungen um die schwierige Beziehung einer Theaterschauspielerin zu ihrem Vater, einem berühmten Filmregisseur.
Kleber Mendonça Filho taucht in die Zeit der brasilianischen Militärdiktatur ein und entwirft auffällig relaxt ein Sitten- und Gesellschaftsbild jener Jahre. Der Hauptdarsteller Wagner Moura wurde zudem als bester Darsteller ausgezeichnet, bei den Frauen ging der Preis an die Debütantin Nadia Melliti aus “La petite dernière” von Hafsia Herzi.
Den Preis für das beste Drehbuch erhielten die belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne für ihr humanistisches Meisterwerk “Jeunes mères” über junge Teenager-Mütter, die in einer sozialen Einrichtung mit ihren neugeborenen Kindern erste Schritte unternehmen, knüpfte ebenfalls an eine zentrale Tradition in Cannes an, wo das sozialrealistische Kino immer eine wichtige Rolle spielte. So gewannen die beiden Filmemacher mit ihren bislang elf Cannes-Premieren fast jedes Mal irgendeinen Preis; zweimal auch die Goldene Palme. “Jeunes mères” gewann überdies den Preis der Ökumenischen Jury.
Nur die Entscheidung für die “Goldene Palme”, mit der Jafar Panahi und sein Film “Un simple accident” geehrt wurden, ist für Cannes-Verhältnisse eher ungewöhnlich, weil hier auch eine politische Konnotation mitschwingt. Der iranische Regisseur saß wegen seiner Filme immer wieder im berüchtigten Evin-Gefängnis in Teheran; so wurde er 2010 wegen “Propaganda gegen den Staat” zu einer sechsjährigen Haftstrafe und 20 Jahren Berufsverbot verurteilt; nach einem Hungerstreik kam er im Frühjahr 2023 auf Kaution frei.
“Un simple accident” greift auf seine Erfahrungen in Haft zurück. Der Film erzählt von einem Mechaniker, der auch im Gefängnis war. Eines Tages glaubt er einen seiner Folterer zu erkennen und entführt ihn kurzerhand; da er sich aber nicht sicher ist, kontaktiert er ehemalige Mitgefangenen, die ähnlich wie er nach Rache dürsten. Doch die Identifikation des Entführten, ob es sich bei diesem um den sadistischen Wärter handelt oder nicht, ist nicht weniger schwierig als die Frage, wie mit ihm zu verfahren sei, wenn er der Gesuchte ist.
“Un simple accident” wirkt streckenweise wie ein Theaterstück und gleicht filmisch einem Road Movie durch Teheran, bei dem die Stadt aber keine Rolle spielt, weil die Protagonisten ganz in ihren moralischen Dilemmata gefangen sind. Es geht um Vergeltung und Genugtuung, um Gerechtigkeit und die Frage, ob man sich durch einen Mord nicht auf die gleiche Stufe wie die Handlanger der Mullahs stellt. Das ist packend und aufwühlend erzählt, auch akustisch mit feinen Details in Szene gesetzt; das Visuelle aber bleibt bei dieser Art von Kino eher außen vor, weil viele Szenen innerhalb beengter Räume oder im Auto spielen.
Zur Jury des 78. Filmfestivals in Cannes unter Vorsitz von Juliette Binoche gehörten die Schauspielerinnen und Schauspieler Halle Berry, Alba Rohrwacher und Jeremy Strong, die Schriftstellerin Leïla Slimani sowie aus dem Fach Regie Payal Kapadia, Dieudo Hamadi, Hong Sang-soo und Carlos Reygadas an.