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Glaube und Gewalt

Gäbe es ohne Religionen keine Kriege? Tatsächlich hat vermeintlich Heiliges Streiten immer wieder zur Gewalt geführt. Dennoch schlummert gerade im Glaube die Möglichkeit zum Frieden

Wenn es um Frieden geht, taucht irgendwann unweigerlich das Lied „Imagine“ auf. „Stell dir vor“, heißt es übersetzt; den Text schrieb Ex-Beatle John Lennon 1971. Das Lied wurde zu einer Ikone der Friedensbewegung.
Stell dir vor, es gäbe keine Aufteilung mehr in Reichtum und Hunger. Es gäbe keine Staaten mehr. Und auch keine Religionen, für die es sich zu töten oder sterben lohnte.
Religion. Sie hat tatsächlich eine Potenz zum Radikalismus: In ihr schlummert die Fähigkeit zur Gewalt. Und zwar in wohl jeder Form von Religion.
Menschen, die glauben, berufen sich auf eine höhere Instanz. Eine Autorität, die im Zweifelsfall Vorrang vor allen irdischen Regeln hat. Leicht wird daraus: So, wie sich das Göttliche mir offenbart hat, ist es richtig. Und nur so!
Regelmäßig führt das dazu, dass Menschen sich über andere erheben. Die Geschichte des Gottesvolkes Israel ist voll vom Kampf gegen das „Unheilige“. Die Götzenanbeter töten; die bösen Nachbarn vertreiben; sich ihr Land einverleiben. Die frühe Christenheit führte Richtungsentscheidungen oft mit Härte und Gewalt herbei. Von den Kreuzzügen des Mittelalters und dem 30-jährigen Krieg ganz zu schweigen.
Im Islam war das nicht anders. Auch Hinduismus und Buddhismus haben eine unselige Geschichte von Gewalt und Terror.
Die Möglichkeit zur Gewalt liegt in der Religion, weil der Mensch diese Möglichkeit grundsätzlich in sich trägt. Seine Instinkte und Triebe führen ihn schnell zu Rechthaberei, zum Bedürfnis nach Geltung, Einfluss, Macht und Geld.
Das ist allerdings auch in Gesellschaften ohne Religion nicht anders. Stalinismus, Hitler-Deutschland oder aktuell Nordkorea zeigen: Wird Religion verboten, übernimmt eine andere Form von Ideologie die Rolle, Radikalismus zu rechtfertigen.
In der Religion liegt aber auch noch eine andere Potenz: die Möglichkeit zum Frieden. Und auch hier gilt: Jede der großen Weltreligionen trägt dieses Saatkorn in sich. Der Theologe Hans Küng geht mit seinem Projekt „Weltethos“ sogar noch einen Schritt weiter: Friede auf der Erde könne es nur geben, wenn die Religionen gemeinsam dafür zusammenstehen (siehe Seite 10).
Das ist nun eine ganz andere Wendung als im Lied „Imagine“: Nicht die Abschaffung der Religion führt zum Frieden. Sondern gerade erst der Blick auf Gott kann dazu führen, dass der Mensch seinen Instinkt zur Gewalt in den Griff bekommt.
Dazu ist es allerdings notwendig, dass sich die Religionen von der Struktur der Gewalt komplett verabschieden. Verabschieden von vermeintlich Heiligen Kriegen im Großen wie im Kleinen.
Das heißt nicht, dass man darauf verzichten müsste, seinen eigenen Glauben als wahr anzusehen und ihn auch so zu bekennen.  
Das heißt aber in jedem Fall: sich verabschieden davon, dem anderen die eigene Wahrheit überzustülpen, ihn zum Antichristen zu erklären oder ihn zum Teufel jagen zu wollen.