Er hat 40 Jahre Erfahrung und 60.000 Geburten begleitet: Nun teilt Wolf Lütje sein Wissen über mentale Stärke, Beckenbodentraining und die Macht der inneren Haltung rund um die Geburt.
Die Angst vor der Geburt des eigenen Kindes kann so groß werden, dass es dafür einen eigenen Fachbegriff gibt: die Tokophobie. Doch auch ohne diese massive Sorge sehen wohl die meisten Schwangeren dem Stichtag mit großem Respekt entgegen. Angstvolle und furchtsame Gedanken an die bevorstehende Geburt sind “Teil des normalen Anpassungsprozesses”, schreibt Sabine Striebich in ihrer Dissertation “Große Angst vor der Geburt” von 2020. Eine Geburt wird mit heftigen Schmerzen verbunden – die “Wehen” benennen es -, auch mit Kontrollverlust. Zudem richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit in jüngster Zeit verstärkt auf traumatische und gewalttätige Erlebnisse während der Geburt.
Wolf Lütje will mit seinem “Geburtscoach” werdenden Müttern die Angst nehmen und sie bei der Vorbereitung darauf unterstützen: “Denn damit hältst du den Schlüssel für deine friedliche oder deine befriedete Geburt in der Hand”, schreibt er in seinem Buch, das kürzlich im Kösel-Verlag erschienen ist.
Lütje ist Arzt und hat nach eigenen Angaben 40 Jahre Erfahrung in der Geburtshilfe gesammelt, war bei rund 60.000 Geburten dabei und ist heute Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Erlebt hat der siebenfache Vater und Geburtscoach als Mann natürlich keine einzige Geburt am eigenen Leib. Sein Buch ist für ihn deshalb “Quintessenz einer Chronik, die ich in unzähligen Stunden der Anwesenheit in Gebärräumen und Operationssälen geschrieben habe”.
Lütje rät werdenden Müttern unter anderem dazu, sich mit ihrer eigenen Herkunft und Geburtsgeschichte auseinanderzusetzen. Warum das wichtig sein kann, erklärt ein Erfahrungsbericht: Eine Mutter, die ihre Söhne jeweils mit einem Notkaiserschnitt zur Welt brachte, erkannte später, dass ihre eigene Mutter ihr von ihrer Geburt immer mit “noch spürbaren Schrecken” erzählt hatte. Diese war demnach zunächst zermürbend; später ließ ein Geburtsstillstand die Ärzte panisch werden. Die Tochter erklärt rückblickend, dass sie erst durch das Verstehen dieser Zusammenhänge die Notkaiserschnitte, die sie selbst eigentlich nicht gewollt hatte, annehmen und sich dafür vergeben konnte.
Der Geburtshelfer beschreibt weiter, wie entscheidend auch das “Mindset” für die anstehende Geburt sei. Gleichzeitig könnten zu feste Vorstellungen und Erwartungen hemmen. “Gib dich hin und lass dich ein”, lautet eine Kapitelüberschrift. Und Lütje empfiehlt, sich als werdende Mutter von Mythen und Fehlinformationen rund um die Geburt frei zu machen. Er schreibt etwa zum Thema Wehen: “Wenn Wehen für dich Wellen sind und die Geburt ein Akt der Öffnung und Dehnung, dann hast du dich ein Stück weit vom Mythos der Geburt als Schmerzprozedur entfernt.”
Sehr ans Herz legt Lütje seinen Leserinnen auch, in Bewegung zu bleiben, am besten sogar eine vorgeburtliche Beckenbodentherapie zu machen. “Auch wenn die wissenschaftliche Evidenz bislang fehlt, bin ich überzeugt, dass Beckenbodentherapie ein Schlüssel sein kann, den Kaiserschnitt zu umgehen”, schreibt Lütje. Der häufigste Grund für Kaiserschnitte seien Geburtsstillstände, Erschöpfung und ungünstige Einstellungen des kindlichen Kopfes im Becken der Mutter: “All dies hat aus meiner Sicht häufig mit einem allzu angespannten Beckenboden zu tun”.
“Dein Geburtscoach” nennt Angst als eine der vier größten Herausforderungen der Geburt; weitere seien der Schmerz, die Erschöpfung sowie das “nicht mehr können”. Für alle vier gibt Lütje Tipps, um sie gut zu meistern. Er stellt zudem “goldene Regeln” für Begleitpersonen während der Geburt auf – und stellt grundsätzlich in Frage, ob sie überhaupt immer im Gebärraum präsent sein müssten. Das sei nur sinnvoll, wenn der Partner oder die Partnerin tatsächlich als unterstützend erlebt werde – und nicht als zusätzliche Belastung.
So sollen Frauen mithilfe des Coaching-Buchs selbstbestimmt und zuversichtlich die Geburt ihres Kindes vorbereiten: Denn für den erfahrenen Geburtshelfer sind friedliche Geburten “die Urform der Liebe”.