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Fünf Jahre Ausnahmezustand in Nazareth: Corona, Krieg und Müll

Auch die biblische Stadt Nazareth hat unter dem Krieg gelitten – aber nicht nur. Die letzten Jahre waren schwer für den Tourismus, die Mafia macht Probleme und die arabische Bevölkerung fühlt sich benachteiligt.

Nazareth im nordisraelischen Galiläa gehört als biblischer Ort der Verkündigung an Maria fest zur Reiseroute christlicher Pilger. Die allerdings kamen bereits in den letzten Jahren spärlich. Spätestens seit den israelischen Angriffen auf den Iran und den iranischen Gegenangriffen bleiben die Besucher ganz weg. Ein Drama in einer Stadt, in der fast alle vom Tourismus leben. Doch auch mafiöse Kriminalität macht den Einwohnern, zu einem Drittel Christen, zu schaffen.

Nazareth ist eine orientalische Stadt. Üblicherweise hupen sich Autos über die Paul-VI.-Hauptstraße unterhalb der Altstadt an, blockiert von Busfahrern, die ihre Touristengruppen abladen, damit diese zu Fuß durch die engen Gassen ziehen. Derzeit aber fließt der Verkehr. Selbst spät am Vormittag finden sich Parkplätze – die vielleicht einzige positive Seite der angespannten Situation.

Eine Seitenstraße höher, deren Name “Bischara” übersetzt so viel bedeutet wie “Straße der guten Nachricht”, hat Zahi Ghraib seinen kleinen Lebensmittel-Laden. “Wir liegen an der Pilgerroute zwischen den beiden wichtigsten Kirchen der Stadt”, sagt der orthodoxe Christ. Denn am nördlichen Ende der Altstadt steht die griechisch-orthodoxe Verkündigungskirche über der Quelle, an der nach der Tradition Erzengel Gabriel Maria die Geburt des Herrn verkündete, und die lateinische Verkündigungsbasilika am südlichen Rand. “Sag Nazareth, und jeder Christ kennt es. Für Tel Aviv kann man das so nicht sagen.”

Zu normalen Zeiten ziehen Menschen aus aller Welt an Ghraibs Geschäft vorbei. Zwar sind die Kirchen in einer sehr weiten Auslegung der Sicherheitsanweisung weiterhin geöffnet, aber gerade mal zwei Besucherinnen haben sich an diesem Vormittag in das orthodoxe Gotteshaus verirrt, dem Anschein nach fromme Amerikanerinnen. Der Platz vor der lateinischen Basilika ist gänzlich leer.

Ghraib erzählt, gerade hätten sie begonnen, sich von Corona vor gut vier Jahren zu erholen, dann kam der Gaza-Krieg. Die Pilger blieben aus, und mit ihnen das Hauptgeschäft der Stadt. “90 Prozent des Einkommens der Stadt kommen aus dem Tourismus. Es ist ein wichtiger Ort der christlichen Welt”, sagt der arabische Israeli. Seit Generationen lebt seine Familie in Nazareth. Sein Vater eröffnete den Laden vor 55 Jahren.

Die jüngsten Kampfhandlungen zwischen Iran und Israel haben die Lage weiter verschlimmert. “Der Krieg ist für uns alle traurig”, sagt der Händler, und dass er auf eine baldige Rückkehr zur Normalität hoffe. “Ich will Frieden im Nahen Osten. Das ist schwierig, aber ohne das wird es nie ruhig hier werden.” Doch Zahi Ghraib ist auch wütend auf seine israelischen Landsleute, wütend auf den Rassismus der jüdischen Mehrheit gegenüber allem Nichtjüdischen. “Ich bin hier geboren, habe einen Pass, zahle meine Steuern, aber als Minderheit in der Minderheit bleiben wir das fünfte Rad am Wagen.”

Im Krieg mit dem Iran ist die Ungleichheit vielen in der arabisch-israelischen Gesellschaft deutlich vor Augen geführt worden. “Wie alle bekommen wir Meldungen aufs Telefon, dass es bald einen Luftalarm geben wird. Aber wir haben keine Schutzräume. In arabischen Städten gibt es keinen Schutz.” Als in Tamra, knapp 25 Kilometer Luftlinie in nordwestlicher Richtung, eine Rakete aus dem Iran vier Frauen tötete, hätten manche Juden gejubelt und gerufen, das Dorf solle brennen, sagt Ghraib. Eine Schande für das jüdische Volk sei das, das im Zweiten Weltkrieg so viel abbekommen habe und jetzt so gegen Teile seiner Bevölkerung reagiere. “Es reicht mit dem Zionismus, mit der Besatzung und diesen Dingen.”

“Am Ende wird es sowieso Frieden geben, daran führt kein Weg vorbei”, sagt auch der orthodoxe Christ, der mit ein paar Gemeindemitgliedern im Hof seiner Kirche Kaffee trinkt. Nazareth sei das beste Beispiel, hier lebe man “schon lange ohne Probleme zusammen”, so der pensionierte Lehrer, der seinen Namen lieber für sich behält. Auch seine Familienmitglieder sind alteingesessene Nazarener. “Vor dem Krieg kamen jeden Schabbat fünf bis zehn Busse mit jüdischen Besuchern. Wir haben sie mit Freude in unsrer Kirche willkommen geheißen.”

Auf die Frage nach der Rechtfertigung des israelischen Angriffs auf den Iran weichen der Pensionär und seine Gesprächspartner aus. Es sei kompliziert. Auch sie haben unter den Raketen der Hisbollah gelitten, auch hier gab es Einschläge. Und wieder die Sache mit dem mangelnden Schutz. “Alle haben Angst, Juden wie Araber”, sagt er. “Die Raketen haben keine Augen”, sagt einer der anderen Männer, ein Ikonenmaler aus dem benachbarten Kfar Kana. Mit den arabischen Opfern dieses Krieges habe im arabischen Bevölkerungsteil die Erkenntnis der Bedrohung eingesetzt.

Nicht alle in Nazareth teilen die Bewertung. “Was hier gerade passiert, ist ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, was Syrien über Jahre erlebt hat”, sagt ein christlicher Geistlicher am anderen Ende der Altstadt. Bevor er nach Nazareth kam, hat er in Nordsyrien die bewaffneten Auseinandersetzungen durchlebt. Die Angst der Heiliglandchristen vor den Geschossen aus Teheran steht für ihn für eine “Schwäche der Seele”.

Israel wisse genau, wie weit es gehen könne und wo seine Grenzen der Stärke lägen, glaubt er. Und dass das Gewaltproblem in Nazareth und anderen arabisch-israelischen Städten weit größer ist als Raketen aus dem Iran. “Die Mafia nutzt die Zeit der Raketenalarme, um ihrer Kriminalität nachzugehen”, spricht er ein Thema an, zu dem die meisten aus Angst lieber schweigen. Laut dem orientalischen Priester sind die mafiösen Strukturen bis ins Stadtbild Nazareths sichtbar. “Die Stadt versinkt im Müll. Im Müll zu leben, ist die größere Erniedrigung, viel schlimmer als die Raketen.”

Von der Mafia erzählt Ladenbesitzer Ghraib nichts. Sein Wunsch wäre, dass sich alle arabischen Parteien zusammenschließen, “damit es eine Kraft gibt, die positiv etwas ausrichten kann für die arabisch-israelische Bevölkerung”. Aber eigentlich hat Ghraib das Gefühl, dass arabische Landsleute nichts zu suchen haben in diesem Staat, weder er noch seine Enkel, “obwohl unsere Wurzeln hier liegen”. Für ihn ist es “eine Lüge, dass Israel ein demokratischer Staat ist”. Nazareth mag weltbekannt sein, aber aus Sicht seiner Bewohner ist es abgehängt.