Das biblische Buch Rut ist ein Lehrstück. Viel Trauriges wird darin erzählt: Es geht um menschliche Not, um das Verlassen der Heimat, das Leben in der Fremde. Trotz allem gibt es ein gutes Ende: Aus Fremden werden Freunde.
Im wahren Leben sieht das oft anders aus – auch in unserem Land. Fremde bleiben Fremde. Wir laden sie nicht ein, bitten sie nicht zu Tisch in unser Haus. Nicht weil wir ausländerfeindlich wären, im Gegenteil: Wir sind weitgereist, vertreten bei Partys gerne die Multi-Kulti-Position und halten uns für weltoffen und tolerant. Und wenn wir mit einer Gruppe nichts zu tun haben wollen, dann mit Leuten vom Schlage Pegida.
Trotzdem tun auch wir uns manchmal schwer mit dem Fremden und den Fremden. Wir „fremdeln“ – wie kleine Kinder.
Das Gefühl des Fremdelns, der Scheu vor dem Unbekannten (Hand aufs Herz!): Wer kennt das nicht? Das kann uns schon im katholischen Gottesdienst in unserer eigenen Stadt beschleichen. Oder im Supermarkt, wenn ringsum viele Sprachen gesprochen werden, nur nicht die deutsche. Oder im Urlaub in der Türkei: Wenn wir die offenherzige Freundlichkeit der Menschen nicht annehmen können, weil wir befürchten, die Einladung zum Tee sei ausschließlich einem handfesten Geschäftsinteresse geschuldet.
Aber warum ist das so? Warum fremdeln wir? Wo wir doch ganz anders sein möchten und Vernunft, Verstand und unsere eigenen Ideale uns etwas ganz anderes vorgeben?
Offenbar haben wir doch noch sehr viel gemein mit unseren Artgenossen aus der Frühzeit der Menschheitsgeschichte: Die eigene Gemeinschaft verspricht uns Schutz und Sicherheit. Fremden gegenüber sind wir mindestens zurückhaltend, wenn nicht ängstlich. Schließlich stellen sie immer eine latente Gefahr für uns dar.
Und dann ist da noch die Bequemlichkeit. Allzugerne richten wir uns ein mit den Menschen, die unsere Sprache sprechen – im konkreten und im übertragenen Sinn. Denn eines ist sicher und sollte auch nicht verhehlt werden: In der Fremde zu leben, mit Fremden zu leben, ist anstrengender als in der eigenen Gruppe. Der Reiz der Exotik kann schnell vergehen. Die andere Sprache, unbekannte Konventionen und Rituale – all das stellt beide Seiten immer wieder vor neue Herausforderungen. Konflikte sind nicht ausgeschlossen.
Dennoch: Wir leben in einem Land, deren Wirtschaft Exportweltmeisterin ist und deren Bürgerinnen und Bürger Weltmeister im Reisen sind. Und wir leben in einer Zeit, die Menschen aus Not zu uns treibt, die eine neue Heimat, eine neue Gemeinschaft und den Schutz suchen, den sie in ihrer instabil gewordenen eigenen Gemeinschaft nicht mehr finden.
Darum müssen wir – die „Eingeborenen“ – uns jeden Tag wieder neu fragen: Wem wollen wir das letzte Wort überlassen? Der Angst und den uralten Instinkten? Oder der Idee der Humanität und der Nächstenliebe, die unsere Zivilisation hervorgebracht hat?
Im Buch Rut finden wir die Antwort auf diese Frage.